Übers Dorf

Ernest Wichner

Unvermutet hatte sich eine richtung ergeben
und die kinder und die haustiere und die bäume und die blumen
und die vögel der luft hatten ihre augen und ihr blatt- und
blütenwerk und das gefieder danach ausgerichtet und sprachen
alle unvermutet darauf hin

*

Am ersten tag lag ein solcher frost über der landschaft daβ den
bauern die sprache im hales festfror und sie würgte so daβ sie in
krämpfen schwiegen den ganzen winter lang schwiegen und
hungerten aus angst vor vereisten hälsen dem klumpigen
festfrieren des kehlkopfes atmeten wenn es denn unumgänglich
geworden eisschwaden ein die allmählich in den tiefen der lungen
erst auftauten das zwerchfell so heiβt es ein gletschersee

*

Der pfarrer aber als er ging hatte seine gemeinde abgezählt
nach seelen wie er's gewohnt war und die kirche verschlossen
der schlüssen als er ging blieb auf dem tisch der sakristei wo er
gefunden wurde von der schwester des toten als er gegangen die
aufschloβ und nachzählte die siebzehn särge Schwarz im
mittelgang des schiffs

*

Die seltsamen worte des dorfes wurden in der seltsamen
grammatik des dorfes zu seltsamen sätzen gefügt und
von seltsamen dorfsprechern ebenso seltsamen dorfhörern im
seltsamen dorftonfall mitgeteilt und auf seltsam erklärliche weise
von diesen verstanden was ihre seltsame dorfantwortrede
schlagend dorfweit bewies

*

Bei anwandlungen von dorfpoesie verhielt man sich
wie im dorfmärchen und bei anwandlungen von dorfüberdruβ wie
in der dorfrealität was ein nichtendenwollendes heiraten gebären und
morden dorffolgerichtig nach sich zog

*

Manchmal wurde der himmel gelb wie schäbiges papier
und auf der dann staubigen allee von der es heiβt sie sei vor
langeweile verkommen fuhr ein kind auf einem alten
bloβ um seine verzichtbaren teile beklauten damenfahrrad
welcher sachverhalt andernorts eingang in ein gedicht gefunden hatte
in dessen krummer mittelzeile ein »i« in anführungsstrichen mit
ungenauer hand verborgen worden war

*

Wie jedes andere dorf der gegend war auch dieses ein
gemeiner menschenhinterhalt der unablässig auf vergeltung für
einen selbstverschuldeten zustand sann welcher wie es sich nun
erweist erst aufzuheben war nach vollständiger entvölkerung
dieses dorfes und menschenhinterhalts und neubesiedlung mit
angehörigen eines anderen volksstammes die in allerkürzester zeit
das dorf als anderssprachigen menschenhinterhalt seiner alten
bestimmung wiedergaben

*

Frühlingsluft trieb in der nächsten kleinstadt die straβenfeger
mit ihren kippkarren voll nervöser kinder durch die straβen die nach
einem zugang zum meer schrien gewiβ sie verspürten ein
verlangen nach kanalrosten zugängen zu wässrigem untergrund den
das einzig flieβende gewässer stank schnurgerade vor sich hin es
schwoll abends und morgens leicht an und verlor sich ansonsten nich
weit vor der stadt auf den feldern

*

Im sommer dann hieβ es zur vermeidung eines gröβeren
notstands habe der volksrat beschlossen das meer und unser
kindliches verlangen nach seeluft für eine erfindung arbeitsscheuer
elemente zu erklären und an die familien erging die weisung die
kinder in den muttern nochmals festzuziehn

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Der müde vater gebrauchte das blickdenken die müde mutter
dachte im rösselsprung der müde groβvater zog dem kellendenken
das senkbleidenken vor die müde groβmutter dachte in einer
rumänischen hausnummer und erst die müden urgroβeltern die ein
müdes denken sich im knistern des universums denkt oder dem
mächtig im sturme schlagenden fensterladen im immer schon
müden hof

*

Und stiess er mit der stange auf etwas festes so wandte er sich
triumphierend um sah einen an und allmählich an einem vorbei
eine kontur die sich ablöste sie changierte ins blau und ins gelb riβ
auf und verlor sich im dunst überm wasser

*

Als sie von den stürmen dort gehört hatten wollten sie
sogleich jemanden hinschicken damit er ihnen berichte und sie
berieten so lange bis sie von den verheerenden erdbeben südlich
davon erfuhren wo sie sogleich jemanden hinschicken wollten
damit er ihnen nachricht darüber zukommen lasse und sie berieten
so lange darüber bis sie von dem grausamen gemetzel nordöstlich
davon erfuhren woraufhin sie plötzlich jedwedes interesse verloren
ihre beratungen einstellten und in einem zustand seltsamer
ungehaltenheit dahinlebten den sie frieden nannten

*

Dabei war alles eingedampft worden zusammengeschrumpft
auf eine art fruchtaustreibung und man hatte nichts anderes im sinn
als jenes nadelöhr aufzuspüren wo man plötzlich auf der rückseite
aller gesten angelangt die welt mit einem strohhalm aufwiegen
konnte was wir so lange probierten bis er knickte

*

Irgendwo tief unten leuchtete die sonne und ich war so sehr
ich selbst daβ ich die zeit von einer runden scheibe ablesen konnte
die weder ziffern noch zeiger hatte daβ ich meine gesten und
bewegungen einem mechanischen ballett überantworten konnte
das den titel identität trug was ich allerdings erst später feststellte
als ich schon im sessel saβ und es mir in aller ruhe betrachten
konnte auch hatte ich kurz vorher die vokabel ich auszusprechen
gelernt

*

Dort ist der abend hatte eine stimme sich vernehmen lassen er
steckt im faβ über den mastbäumen wo er gut aufgehoben ist wir aber
stechen mit unserem durst in see die stimme meiner frau legte
sich über meine stimme und beide lieβen ein abschiedswehes oh der
abend erklingen während drauβen im winde die mastbäume klirrten
und polternd die abendfässer heimwärts rollten

*

Und wer in einem fass in die welt hinausgerollt war hatte
vorher sein leben den wissenschaften übereignet kalium natrium
und aluminium wurden überreich aus ihnen an jenes tageslicht
heraufbefördert vor dem sie im alter sich in abgedunkelte stuben
entzogen dämmernd auf den tod hin der als zerschrammte
faβdaube in ihren frühlingsblauen lungenflügeln bebte

*

Dunkel wurde der himmel dann weiβ mit stumpfen grauen
wolken über den geduckten dächern auf denen man den regen
plötzlich in nie gehörtem tonfall aufklatschen hörte kleine weiβe
maden sirrten durch die dünne luft über den häusern und purzelten
wie trommeltupfer übers dorf die schwüle zeit der linde hatte
begonnen und groβvater in stiefeln vorm haus schaufelte den
madenregen schreckensbleich und wie für immer stumm auf einen
heckenhohen haufen

*

Familienrede in den verriegelten häusern sickerte als kaum
hörbar gewordenes flüstern in den kalk der wände als fast eine woche
lang niemand sich mehr traute das haus zu verlassen ein stiller
glockenton hing weiβe madenfäulnis über der landschaft akazie linde
und holunder blühten zornesweiβ und schwer den sommer ein

*

Ein lauter niemandshabicht kam ins dorf der stolze mann
ulysses fisch auf barfüβigen stelzen stinkend qualmend und in
moderschwadig blattrig abfaulenden kleidern redete
beschwörungsschund zeter und verheiβung um den einen
schwarzruinig seine zunge noch zurückhaltenden schneidezahn
ein hohler pferdskopf geht euch auf wo ihr den mond sonst seht so er
gebt ihr mir nicht gebt ihr mir nicht um fusel gings dem hohen herrn
um fusel und geflügelinnereien was man ihm gab
den pferdskopf trug ulysses dann auf eignen schultern fort

*

Der wasserfarbenmond über dem letztlich nicht zu
beschreibenden dorf war zum fleck geschrumpft und dergestalt auf
verblichenes papier herabgesunken daβ alle weitere textarbeit sich
kreisförmig um das vermögens nächtlicher allmachtsphantasien
restlos entvölkerte dorf legte