Die Nachtwandlerin

Alfred Döblin

Artwork by Weims

Als es zur Abendmesse läutete, ging Herr Valentin Priebe an den riesigen Hedwigskirche vorüber und erwog, seine dünne goldene Uhr mit einer eleganten Armbewegung aus der Tasche ziehend, wie er den Rest des Tages verleben solle. Es war Sonnabend, sein Büro um fünf Uhr geschlossen, und in der warmen Herbstluft mochte es lieblich sein für einen jungen Mann zu flanieren.

Er hob zweimal den braunen Samthut ab, um vorsichtig die feinen Spinnweben abzublasen, die von der Alten Bibliothek durch die Luft herschwammen, zupfte an seinem Taschentuch, dessen Rosa malerisch vor der blauen Sportjacke stand. Seine sanft gebogenen Beine schritten zierlich einher in weißen Tennishosen, hellgelben Schuhen. An der Charlottenstraße prustete ein lahmes Auto vorbei; schnüffelnd hob sich die aufgestülpte Nase über dem struppigen blonden Schnurrbart. Herr Priebe wedelte anmutig das Taschentuch gegen den Staub, bog sich besänftigt in den Hüften vor. Er huschte über den Damm.

Violette Strümpfe trug er, und es gelang ihm trotz energischen Schleuderns der Beine nicht, sie den Passanten zu Gesicht zu bringen; die Hosen waren zu lang.

In der Friedrichstraße musterte er mit verwegenem Blick gleichmäßig Herren und Damen, bereit nach Belieben als Schürzenjäger oder Männerfreund zu gelten. Sperrte die braunen, runden Augen auf, die gutmütige Kaninchenblicke warfen. Sein linkes Auge, mit schwarzen Sprenkeln in der Iris, stand etwas nach außen; auch zuckte Herr Priebe mit dem Kopf häufig nach links, als wollte er über die Schulter nach hinten sehen.

In aufgelösten Scharen trotteten die Menschen beide Seiten der Straße entlang, standen vor den Schaufenstern, sprangen in die Wagen, schlüpften zwischen schnurrenden Autos über den Asphalt. Streifte ihn etwas am Arm in der Mohrenstraße, lockte eine Stimme: „Na Schatz‟, geschminktes feines Gesicht, rotblonde Perrücke, übergroße Augen, Moschuswolke Veilchenbükett an der Brust. Blutübergossen wandte Herr Priebe den Kopf ab. Er sah angestrengt auf den Damm, fixierte einen Radfaher derart ängstlich, daß der ihn anbläkte.

Wie er aus seiner Lähmung an der Bordschwelle erwachte, schlenderte er vor das Schuhgeschäft von Barthmann und summte. Da kam dicht hinter ihm her ein graziöses Püppchen, rotblonde Perrücke, übergroße Augen. Dessous schlenkernd über durchbrochenen hellblauen Strümpfen plaudernd mit einem Geck im Zylinder. Sie lachten an ihm vorüber. Herrn Priebe stand das Herz still.

Er setzte sich in die Elektrische, fuhr in den Tiergarten, zog auf und ab die Hofjägerallee, bis er sich beruhigt hatte, lag in einer Droschke. Er wohnte in der Brunnenstraße in einem Quergebäude, in der lauen Abendluft lärmten die Kinder. Bevor er in den Hausflur ging, sah er sich um, ob ihm jemand folgte. Sein Vater saß hemdsärmelg in der Wohnung unter der Hängelampe, qualmte einen beißenden Knaster; ein kahlköpfiger Invalide mit einer blauen Brille krummen Rücken. Die kleine Ella war schon im Bett an der Wand; sie zog Herrn Valentin das rosa Taschentuch aus der Jacke und roch daran; er gab ihr eine Banane vom Tisch.

Am Montag zwängte er sich in seinen Omnibus, rollte zum Wedding hinauf. Er ging über einen ungeheuren Kohlenhof. In kleinen Haufen lagen die schwarzen rußigen Steine, schwelten. Der Hof war mit dickem Staub bedeckt, unter dem Schienenstränge in dem weißen Morgenlicht blitzten. Von schwarzen Bergen rieselte es unaufhörlich herunter; starke Kräne knirschten hinein, prasselten ihre Ladung in die kleinen Bunker. Herr Priebe ging in einem glanzigen schwarzen Überrock über den dunstigen Hof; seine grauen Hosen waren abgestoßen. Er warf verschlafene Blicke über die Geleise, kletterte die Wendeltreppe des kleinen Bürohauses hinauf. Niedrige weite Kontorräume, Holzladen an den Fenstern. Hinter den Pulten Männern; an der Wand junge Mädchen in schwarzen Schürzen; sie spielten auf Schreibmaschinen, machten mettallischen Lärm.

Der Herr kaute an seinem Schnurrbart, pendelte tiefsinning und zerstreut auf und ab, rauchte eine zerblätterte Zigarre. Zwei Fräulein stießen sich an, sagten laut zueinander: „Herr Priebe sieht eigentlich recht verlebt aus‟. Er stutzte, rekelte sich an seinem Pult, sagte unter hörbarem Gähnen zu seinem Nachbarn: „Das Großstadtleben bekommt einem auf die Dauer nicht. Ich werde doch noch nach Friedrichshagen ziehen‟. Aß zum Frühstück einen sauren Herring. Dann setzte er den horngefaßten Zwicker auf, schrie ein engbrüstiges Mädchen an, einer anderen warf er den Durchschlag zerrisssen vor die Füße. Das Fräulein hob die Fetzen auf, maulte, plärrte lautlos, die Schürze ins Gesicht geknüllt. Entrüstet verlängerte der Herr sein Gesicht, bewegte sich verlegen herum.

In der Mittagspause beobachtete der Herr dieses Mädchen, das Antonie gerufen wurde, folgte ihr auf die Wendeltreppe, näselte neben ihr leutselig, daß die Sache von vorhin nichts auf sich habe. In polnischem rauhen Dialekt erwiderte sie von Furcht vor Kündigung und weinte nochmals. Er stieg zurück. Die jungen Männer an den Pulten stießen sich lächelnd an.

Am nächsten Morgen hatte Herr Priebe eine faltige Stirn, zotete mit den Kollegen, dann ging er summen durch den Raum, beugte sich wie versehentlich, über die polnische Maschinistin die hochfuhr, und flüsterte eine kleine Zeit mit ihr vor allen Menschen. Als er sich von ihr abwandte, pfiff er gleichmütig und saß nägellutschend an seinem Pult, um seinem glattgescheitelten, blonden Nachbarn ein träumerisches „Ja ja‟ zuzuwerfen. Wie der ihm zuzwinkerte, zog er schmunzelnd sein gut ausgefülltes Gesicht in Falten, so daß es aussah, als wäre es mit Bindfäden verschnurrt von den Ohren her.

Antonie Kowalski war ein rundes ebenmäßiges Geschöpf. Sie trug große, unechte Ringe in beiden Ohren; an den feisten Armen breite metallene Reifen. Sie wohnte im Nebenhause Valentins; eine niedrige Mauer trennte beide Höfe. Hoch im vierten Stock hauste sie mit ihrer Mutter. Die Frau, eine Polin, hatte während ihr Mann im Gefängnis saß, eine Liebschaft mit einem Zigeuner, einem Kesselflicker, unterhalten. Als der Ehemann nach dreieinhalb Jahren aus dem Gefängnis wiederkam und die einjährige Antonie vorfand, setzte er Mutter und Kind aus der Wohnung. Sie zogen in die Brunnenstraße, in eine Dachkammer. Antonie wuchs als ein jähzorniges, leidenschaftliches und zärtliches Tierchen auf; nur daß sie in der Zeit ihres monatlichen Ungemachs stiller und leidend wurde, sich verkroch, auch viel mit der Mutter weinte. Um den Vollmond hatte die Mutter sie empfangen. Die Frau stand damals spätabends mit dem Zigeuner in der Küche, als ihr der branntweinduftende Geselle um den Leib griff. Sie war, Hilfe zu schreien, an das Fenster gelaufen, hatte die Gardine und Flügel weit aufgerissen, so daß plötzlich das prallweiße Mondlicht hart über Diele und Tisch fiel. Sie fuhr einen Augenblick geblendet zurück. Der rasante Mann warf sie schon auf den weißbestrahlten Boden, riß ihr keuchend die Röcke ab, und so wurde sie seine Geliebte. Jetzt lachte und schwatze Antonie viel im Schlaf, wenn der Mond vor ihr Fenster trat. Oft saß sie abends am Fenster, hatte die Augen offen; die Mutter mußte sie schütteln und laut anrufen, eher sie den Blick herdrehte und aufstand.

Eines Tages, als es Mittag pfiff, wartete Antonie Herrn Valentin an der Wendeltreppe ab. Sie fragte ihn leise, warum er sie nicht ansähe und warum er sie vorige Woche sitzen gelassen hätte. „Hier sind zwei Billets für das Konzert bei Lipps, um halb neun an der Kegelbahn oder drin im Saal‟. Drückte ihm einen gelben Programmzettel in die Hand, lief über den Kohlenhof.

Herr Priebe zitterte stark. Seine kalten Hände schwitzen, als er wieder an seinem Pult saß. Ihm wurde wüst und schwindelig. Der Speichel lief ihm unter der Zunge vor, er legte den Kopf auf die Schreibunterlage: „Was nun?‟ Setzte seinen steifen Hut verbeult auf, stockerte auf die Straße und ging statt zu Tisch lange Straßenzüge rasch entlang, die Liebenwalder-straße, Prinz-Eugenstraße, über die Pankstraße, zum grünumsäumten Bahnhof Wedding, fuhr mit der Ringbahn um halb Berlin und zurück. Vom Kontor machte er sich abends im schäbigen Gehrock auf den Weg zur Brauerei, erst als ein hellgekleidetes Mädchen hinter ihm kicherte, fuhr er nach Hause, parfümierte sich im Tennisanzug. Mit Tränen in den Augen verabschiedete er sich nach vielem Drehen von der kleinen Ella, die ihn oft fragte, warum er so stöhne, wie ein Bär stöhne.

Musik schmetterte aus allen Gärten am Friedrichshain. Antonie war nicht an der dunklen Kegelbahn. Aus dem blitzernden Ballsaal tönte die Stimme des Maitre. Herr Valentin stutzte sich auf den Arm eines lustigen Kollegen, als er die Treppe zum Saal hinaufging. Antonie tanzte gerade am Arm eines flotten Kommis vorbei. Gnädig begrüßte Herr Valentin das Fräulein im Vorübergehen. Sie huschte am Schluss des Polkas auf ihn zu, stellte sich ohne ein Wort zu sagen neben ihn auf. „da wären wir also, kleine Krabbe,‟ sagte er heiser, fixierte sie bis zu den Füßen mit Kennerblicken.

Sie trug ein weißes Waschkleid mit einem braunen Ledergurtel. Die schwarzen Haare hatte sie über die Ohren gewellt, hoch aus der Stirn gekämmt. Der große, weiße Federhut war vom Tanzen weit in den Nacken gesunken, so daß das dunkelrote volle Gesicht grell davorstand. Breite Nase, hervortretende Backenknochen; die schwarzen Augen ernst und feucht. Schweigend standen sie sich gegenüber, dann legte sie ihren bloßen prallen Arm in seinen und zog ihn mit ehrfürchtigen zärtlichen Blicken zum Saal hinaus in den lampionbeschienenen Garten.

Draußen unter den alten Laubbäumen krachten die Schießbuden; die Karusells dudelten. Herr Valentin schob keck den Samthut zurück, zundete eine Zigarette an, führte Antonie in das Gewühl zwischen den Tischen. Mit überlauter Stimme schwatzte er, lachte, gestikulierte, sie preßte seinen rechten Arm fest an sich. Einem Fräulein, das mit einem Glas Bier vorüberging, warf er einen schlüpfrigen Gruß zu. Antonie kicherte begeistert. An der Kegelbahn keine Laternen. Sie setzte sich mit einem Sprung auf einen sandbestreuten Tisch, er hüpfte nach einer Pause neben sie. Schon lehnte ihr weißer Federhut an seiner Wange, faßte sie ihn zögernd um die Taille. Ein stoßweißes Rücken ging durch seinen Körper, er wand sich unter ihrem Arm, schauderte: „Ach Gott! Der Samthut kollerte hinter ihnen auf den Tisch. Valentin sagte: „Fräulein, ich habe heute Mittag ein Paar Wüstchen gegessen; die müssen verdorben gewesen sein.‟ Sie streichelte mit dem Handteller seine Wange, seufzte verschämt: „Sie müssen was dagegen tun, Herr Priebe‟. Er rutschte nach einer Pause mit einem Grinsen von der Tischplatte, stand leichenblaß da. Sie kam nach.

In der Nacht warf er sich im Bett, murmelte ins Kissen: „Was soll daraus werden? Was ist denn, was ist denn?‟ Der Vater schrie aus der Nebenstube: „Immerfort kracht dein Bett. Wer soll denn dabei schlafen?‟ Priebe lag ruhiger. Ihm fiel ein, daß Antonie eine Vase in einer Verkaufsbude schön gefunden hatte. Noch vor acht Uhr morgens stand er vor einem Laden in der Chausseestraße, betrat als erster Käufer das Geschäft und erstand für achtundzwanzig Mark ein unförmiges Porzellanstück, eine Vase mit einem Reigen von Amoretten, die dicke Backen machten und einen Kranz hielten.

In der kühlen Fasanenallee traf er sich abends mit der kleinen Polin. Die nahm ihn kreischend das hohe Paket aus der Hand. Sie riß das Paket ab, sobald Sie allein auf einer Bank saßen. Mit offenem Mund blieb sie vor der bunten Kostbarkeit sitzen. Vorsichtig stellte sie sie neben sich auf die Bank, küßte und biß Herrn Priebe in die Backe. Er streichelte ihr mit einigen kramphaften Bewegungen das Stirnhaar unter dem weißen Federhut zurück und hielt es für angebracht, ihr unter schlüpfrigen Koseworten an die Brust zu greifen. Sie bog kräfitg seine Hand weg, nahm seinen Kopf und küßte sein ganzes Gesicht ab. Dann gingen sie Arm in Arm die schmalen Spazierwege, während er sie oft losließ, an einen Baum lehnte und mit einem Gelächter losplatzte, daß sie stutzig machte; schließlich sah sie geschmeichelt stief auf die Erde. Die Vase aber warf er unter solchen Grimassen an der Rousseauinsel ins Wasser, zum schluchzenden Entsetzen Antoniens, der er eine schönere versprach. Am Gitter des nebligen Wasserstreifens krächzte er mit übermüdetem Gesicht: „Vase hin, Vase her, was kommt es auf eine Vase an?“

Er hatte schon im Kontor gelegentlich den jungen Leuten erzählt von einem exotischen Mätresse, die er sich halte, und die ihn stark strapaziere; von einem kleinen rezizenden Brillantring, den er ihr geschenkt habe, und den sie nun jetzt beim Tanz verloren hätte, ohne deswegen auch nur mit der Wimper zu zucken. Er wurde eines Sonnabends von den Kollegen genötigt, mit ihnen auf die feinen Lokale zu gehen. Er meinte zuerst, daß sei lächerlich für sie, denn das Geld ging dabei nur so hin, dann fuhr man zunehmend heiter in Berlin herum. Valentin, in gehobener Laune, freudig über sich erstaunt, lud sie zu immer neuen Lokalen ein, die er aus Plakaten kannte. Sie hockten zu vieren in einer jämmerlichen Rumpeldroschke, tranken erst in Mundts Tanzsalon, fuhren von Café zu Kneipe. Um drei Uhr morgens gröhlten sie im Café Minerva, um halb vier torkelten sie untergefaßt in das Café Greif, Elsässer‐Straße. An einem Ecktisch sagte eine graublasse Dame zu Valentin, er sähe aus wie der keusche Joseph; er sank über den Schoß einer alten Vettel, die ihr Pilsener Bier wegrückte, und der er gestand, sie wäre so zärtlich wie seine letzte Braut. Die drei anderen halsten ihn das Weib auf, packten beide in eine Droschke und tobten hinter dem langsamen Fuhrwerk mit Schirmen und Hüten her.

Kaum ein Wort sprach Valentin in den nächsten Tagen im Kontor. Sein Gesicht hatte in manchen Minuten etwas von Versteinerung. Er war ernüchtert, fand sich nicht damit ab, was ihm in der Nacht geschehen war, wütete gegen die Kollegen und hätte sie um Gnade bitten mögen. Abends blieb er zu Hause; vor dem Einschlafen weinte er im Bett viel und kläglich. Antonie übersah er; auch als sie ihn verstohlen auf dem Kohlenhof „Adieu‟ sagte, weil sie eine Verwandte in Ostpreußen pflegen sollte, meinte er nur: „Ja, wenn Sie Urlaub bekommen haben, Fräulein–dann, reisen Sie nur.‟ Er ließ sich gehen, bürstete sich nicht ab, lief manchmal mittags unter einer Angst spazieren.

Wenig über zwei Wochen dauerte dieser Zustand. Dann cremte Valentin seine gelben Schuhe ein, nahm sich zu einigen verzweifelten Flanierzügen, um nicht zu ersticken, einen jungen Kassierer mit; hatte eine gelle herrische aufgeregte Stimme, sonderbar auch, daß seine Augen blutunterlaufen waren, wie bei einem Säufer. Er wachte eines Morgens mit Halsschmerzen. Der Kloß, das Drücken ließ nicht nach. Eine fröhliche Bewegung entstand in ihm unter dieser drolligen Ablenkung, die ihn veranlaßte, alle Augenblicke „Gluck, Gluck‟ zu machen und dabei den Kopf nach vorn wie eine Gans zu rucken. Der Doktor, zu dem er ging, schickte ihn zu seinem Erstaunen zu einem anderen. Und der, ein beleibter Sanitätsrat mit fleischigen Fingern, lächelte auf Valentins Frage, was der denn habe, schnüffelte, während er in seinem Notizbuch kritzelte: „Müssen Sie sich mal bei dem schönen Fräulein erkundigen, das Sie vor ein Paar Wochen besucht haben, hähä; die wird’s wissen.‟ Er hörte schon nichts mehr. Er sprang in wenigem Gelächter die Treppe herunter. Also das war es? Er prustete auf der Königsstraße vor Vergnügen. In einer ihn plötzlich überkommenden Heiterkeit kaufte er sich ein Witzblatt an der Ecke Spandauerstraße; ob etwas von seiner Sache drinstände. Nun war alles wieder gut. So hatte sich die Sache doch gelohnt. Zu Hause zog er sich um und promenierte an der strengen Winterluft. In seiner Pelzmütze und dem vermotteten Krimmerkragen machte er einen entschieden russischen Eindruck. Er lupfte mit feiner Verachtung das linke Bein, wenn er an einer Dame vorüberging. „In dieser Gesellschaft wären wir also zu Hause. Die Krankheit paßt zur Pelzgarnitur. Vom Scheitel bis zur Sohle.‟ Er hatte keine gewöhnlichen Halsschmerzen; es war das Leiden der Roués, der Herrschaften von Welt. Es ist nicht schrecklich; man kann damit spazierengehen, Schokolade trinken. Er lächelte in tief befriedigter Rache um sich. Zu einem Reisenden, den er traf, sagte er: „Wir haben unsere Bewegungsfreheit wieder.‟

Antonie kam zurück. Valentin begrüßte sie geringschätzig an der Schreibmaschine. Sie sah recht gewöhnlich aus, schon die Beschäftigung degradierte. Auf der Straße schmiegte sie sich mittags an ihn; sie latschten durch die lange Turmstraße im Schnee. Auf die Frage, warum er so sei, antwortete er, es ereigneten sich in einer Stadt wie Berlin mancherlei Dinge; Erlebnisse könne man sie nennen; er nähme sie belanglos. Sie bat ihn zu sprechen. Als er sich selbstzufrieden eine Zigarette angezündet hatte, und noch lange mit dem Streichholz spielte, gab er brockenweise von sich, daß es mit der Offenheit solche Sache sei; man wüßte schlecht, wie man sich da zu verhalten habe, besonders Frauen gegenüber, man hörte ja manches; es sei jedenfalls nicht so einfach. Sie hatte tränenschwimmende Augen, machte ein verschlossenes fremdes Gesicht. Ihm ging die Zigarette aus; er stammelte beunruhigt, er werde sich die Sache überlegen. Dabei klopfte er ihr den Schnee vom Rock ab, den sie beim Anlauf gegen einen Baum abgestreift hatte.

Abends im Humboldthain empfand er vor ihrem verfrorenen Gesicht ein so demütig anbetendes Gefühl und war so furchtsam, daß er wie ein getretener Hund an ihre Hand kroch und alles herausplatzte, blind, wie ein Todgeweihter. Am Schluß seiner Rede fiel er vor Erregung von der Bank. Antonie, von seiner Erregung mitgerissen, zerrte an seiner Schulter, bettelte, er möchte doch aufstehen, trat auf ihre Muffe, die hingefallen war. Sie weinte und tröstete ihn plappernd, als sie nach der Stadt zugingen; jeden Augenblick faßte sie ihn bei den Paletotknöpfen, umarmte ihn mit Kraft, daß er seufzte. Sie hatte, als sie sich bald trennten, beide mit blauen Nasen und mit Schnee auf den Schultern, ein fast glücklich verwirrtes Wesen, wollte mit Valentin in ihre Wohnung gehen. Er warf unruhige Blicke, schnaubte, rannte getrieben durch die hellen und engen Straßen, an Kinos vorbei mit Mordplakaten, an dem Geigengesang der Cafés, auf Knien, die weicher und weicher wurden und ihm wie Wachs wegschmolzen.

Antonie und Valentin sprachen dann für lange Zeit nur noch zweimal zusammen. Das eine Mal am Tage nach der Begegnung im Humboldthain; da trafen sie sich vor der Fabrik zu einem gemeinsamen Nachhauseweg. Sie hatte einen schwarzen Tuchmantel an, dazu eine leichte Boa; auf dem Kopf eine samtene Kappe. In ihren runden Bewegungen glitt sie an ihm heran; öffnete wenig den breiten Mund mit den aufgeworfenen Lippen, ging vertraulich dicht neben Valentin im Schnee. Sie sprachen vom Geschäft, vom Wetter und blieben vor den Schaufenstern stehen. Den Rest des Weges fuhren sie in der Elektrischen. Nur beim Abschiede konnte er einmal ihren unverständlichen Blick fassen, den sie auf die Seite drehte.

Nach anderthalb Wochen fragte er sie auf der Wendeltreppe, wie es ihr ginge. Sie antwortete, während sie sich an einem Ohrring zufpte: „Gut‟; vielleicht könnten sie sich morgen unterhalten.

Am nächsten Tag kam sie nicht ins Kontor. Wochenlang blieb sie fort. Er schreib an sie, bettelte um eine Antwort. Ihre Mutter hielt sie zu Hause. Sie war still geworden. Sie litt an Schlaflosigkeit. Noch als sie ins Büro ging die letzten Tage, meinte sie zur Mutter, sie höre feines Glöckchenklingen, auch tiefe Saitentöne, die in Harmonien abwechselten. Es war gar nicht lästig, sie hörte es recht gern. Sie wollte nicht auf die Straßen gehen, blieb lieber im Zimmer; keinen Menschen als die Mutter mochte sie sehen. Und als einmal Valentin sie besuchte, durfte er sich ihr gegenüber setzten; nur daß er sie berührte duldete sie nicht. Hinter ihm öffnete sie das Fenster. Ein plötzlicher Trieb kam über sie, sich nicht zu bewegen. Sie ging wenige Schritte im Zimmer liebevoll um sich herum. Die Mutter fragte einmal, ob sie sich nicht langweilte. Sie setzte ihr den breiten Federhut auf , kleidete sie völlig und warm an. Sie lächelte zur Mutter: „Geh du mit aus.“ Die faßte sie beim Ellbogen: „Hast du eine Liebschaft, Toni? Kriegst schon einen anderen.‟ Sie gingen die Treppe herunter und weder hinauf. „Ich freue mich allein vielmehr mit meinen schönen Sachen.‟ Und wirklich saß sie oben in den Stuhl gesunken, der Mutter gegenüber, plauderte schön und strahlend; strich über ihr Kleid. Das Weiße ihres Auges war sichtbar. Sie war viel beschäftigt, ohne zu wissen, womit. Oft wanderte sie im Zimmer herum mit glücklichem Gesicht, auf lautlosen Pantoffeln. Sie gönnte sich feierlich keine Beschäftigung. Spielte gedanklos, gedankenvoll mit bunten Zeuglappen. Band sich nach und nach eine Puppe zusammen, eine sehr farbige Flickpuppe, ein kleines Mädchen, groß wie eine Hand, zeigte sie der Mutter, schmiegte sie an sich, bettete sie ein.

Unter dem Spiel und dem Plaudern wurde sie offener. Antonie half der Mutter träumerisch im Haushalt, begleitete sie bei Besorgungen. Valentin wünschte zu ihr; er saß ihr gebrochen gegenüber. Sie beobachtete ihn leer. Eine Freundin riet Antonien, ihn doch wegzuschicken.

Und eines Spätnachmittags stand Antonie am Fenster ihrer Dachwohnung, sah auf das Nachbargebäude. Je länger sie hinsah, umso wilder fuhren ihre Arme zusammen. Krampfhaft wand sie sich; sie beschattete ihre hellen Augen „Ich will ihn wieder lieben können. Ich kann es nicht ohne ihn ertragen. Ich will dich wieder lieben können.‟ Am Abend hatte er einen Zettel von ihr. Sie waren allein. Das gräßlich geöffnete Gesicht stand vor seinem. Sie hielt ihn fordernd: „küß mich, küß mich!‟ „Nein, ich darf nicht, ich darf nicht.‟ „Der Arzt geht mich nicht an, Valentin. Der Arzt kann mich nicht tot und nicht lebendig machen.‟ Die bibbernden zwei umarmaten sich. Sie biß sich in seine Lippe fest; und dann biß er nach ihrer. Valentin torkelte. Eine Schlange umwand sie in einer steinernen Spirale, rollte sie hin, ließ sie liegen.

Als die Mutter am nächsten Morgen den braunen Schal sich über den Kopf schlug, um waschen zu gehen, kam Antonie verschlafen aus dem Bett gekrochen, zog die Frau am Arm zu sich her und ließ sich von ihr streicheln: „Mir fehlt gar nichts mehr, Mutter; ich geh ins Geschäft.‟ „Hast du dich mit Valentin vertragen?‟

Nach einer langen Pause während es schien als ob sie wieder einschliefe, sagte Antonie: „Ich denke schon.‟

Im Geschäft war sie träge, sinnierte herum, blieb schließlich weg. Sie mischte sich unter die kleinen Fabrikmädchen, die abends in der Brunnenstraße und Chauseestraße tanzen gingen, sagte nie Valentin davon. Sie stand neugierig und mit verschämter Miene um elf Uhr abends an dunklen Häuserecken mit zweifelhaften Damen, die ihr mit Witzeleien zuredeten. Antonie horchte sie aus, betrachtete sie, ließ sich in Cafés von Männern begleiten und lief dann weg. Stiller und stiller kam sie von solchen Spaziergängen nach Hause; ihre Schlaflosigkeit fing wieder an. Damals begannen die ersten Erscheinungen eines sonderbaren Nachtwandelns bei ihr. Ihre kleine Puppe in der Hand, schlich sie im Hemd bei völliger Finsternis durch Stube und Küche, an der schnarchenden Mutter vorbei über den Korridor und wieder zurück. Keine Diele krachte, vorsichtig setzte sie die nackten Füße, keinen Stuhl stieß sie an. Sie flüsterte zu der Puppe, die sie an ihren Mund hochschwenkte: „Nimmst du mich mit? Du bist gut. Mit dir geh’ ich. Hupf auf meinen Arm und sei recht lieb zu mir. Mit dir geh’ ich aus. Ja, kannst dich ruhig auf die Hemdkrause setzen. Du bist so schön, so schön zu mir. Mit wem kann man so schön sein wie mit dir?‟

Einmal erwachte die Mutter darunter, daß Antonie seufzend am Fenster rüttelte, das nicht gleich aufsprang. Sie brachte die Träumerin wortlos zu Bett, die nach einigem Stammeln unruhig einschlief.

Zu Valentin war Antonie in dieser Zeit gleichmäßig freundlich. Er kam heimlich oft zu ihr; als er sie einmal fragte, wann sie heiraten wollten, sagte sie, wozu das sei, wessen es noch zwischen ihnen bedurfe. Und immer ungeduldiger wartete sie, wenn er wegging, daß es ganz finster wurde. Willenlos umarmte sie ihn und war gut zu ihm; wenn er fort war, stöhnte sie jammervoll, bestrich ihren kleinen runden Spiegel mit Seife, so daß sie sich nicht sah, steckte die Gardinen vor dem Fenster zusammen. Die Mutter tappte im Dunkel durch die Küche herein” „Bist du da, Toni?‟ „Willst du die Toni sehen, Mutter?‟ Und während die Frau mit der Petroleumlampe herkam, hielt sie ihr den kleinen Zeuglappen, die Puppe, tränenübergossen hin: „Das ist die Toni. Das ist meine kleine süße Toni. Nicht, Mutter, das soll unsere kleine süße Toni sein?‟ Sie lachte und schmeichelte dem Lumpen; die alte Frau lachte mit.

Und eines späten Abends brannte das elektrische Licht vor einem neueröffneten Tingeltangel in der Hussitenstraße. Es war strenger Frost; in ihrem schwarzen Tuchmantel, die Kappe auf dem Haar, lief die kleine Polin in eine Häusernische und sah mit zwei heftig kichernden und kreischenden Mädchen zu den grell plakatierten Schaufenstern herüber. Da drehte sich drüben die Tür; untergefaßt zogen drei bunte Damen mit zwei Herren über den schmutzigen Damm, in einer Reihe. Der eine Herr tänzelte graziös; er hatte ein gedunsenes glührotes Gesicht und verlor oft zum allgemeinen Vergnügen einen Gummischuh; ein rosa Taschentuch stand malerisch vor seinem zerknäuelten Ulster. Antonie ging taumelig ein Paar Schritte auf die Gruppe zu, drückte sich, die Muffe vor der Stirn, in einen dunklen Hauseingang. Der amüsierte Herr griff mit feuchter Hand über ihr Ohr, zerrte eine Haarsträhne; im Vorübergehen stotterte er: „Alle Kinder sollen mitkommen. Ihr braucht euch vor mir nicht zu fürchten.‟

Drei Uhr mitten in der Nacht gröhlten sie im Hofe von Valentin zweistimmig Lieder; dann gedämpft zu Ehren seiner Braut, wie Herr Priebe sagte, den Schlager: „Nimm mich mit, nimm mich mit, in dein Kämmerlein.‟ Und während sie, Männchen und Weibchen, im Kreise flöteten, kam in den grellen Mondschein oben aus der Dachluke ein Kopf mit schwarzem losen Haar hervor, bloßer Hals, rotdurchwirkter Hemdrand, schob sich im weißen Unterrock ein Körper durch das Fenster auf die Dachrinne. Tappte mit unregelmäßigem Schritt die Regenrinne entlang; bloße Füße; an ihrer Hand, vor ihrem Rock zappelte etwas Schwarzes, Kleines.

Herr Priebe imitierte eben mit Damenstimme: „Ach, wenn das der Petrus wüßte.‟

Da scharrte es vom Dach. Der Kassierer Lorenz, ein pickliges Biergesicht, blickte zuerst auf. Ein weißer Haufen, aufgestreckte Beine ohne Strümpfe, kam dicht vor der Front des Hinterhauses herunter, polterte gegen ein Blumenbrett auf einen Mülleimerdeckel, klatschte saftvoll dick und breit auf. Über die niedrige Feuermauer spritzte es klebrig, weiß; auf der Mauer blieb etwas dunkles Lappiges liegen.

„Es ist einer aus dem Fenster gefallen.‟ Die fünf bewegungslos. Herr Lorenz wischte sich die Lippen ab. „Wo war das?‟ gellte ein Fräulein; sie rannte heulend über den Hof zum Tor, die beiden anderen nach. „Ich kann so was nicht sehen‟, murmelte Herr Priebe, „mir wird ganz schlecht; ich leg’ mich schlafen.‟ Im Hause klapperte es, wurden Fenster hell. Valentin bewegte die Lippen, was nun wirklich gewesen wäre, zitterte die Treppen hinauf in seine Wohnung, hüllte sich bis über die Ohren ein: „ich will von dem ganzen Hause nichts wissen; ach mir ist schlecht. Umziehen, umziehen.‟

Morgens im Finsteren klopfte Antoniens Mutter bei Priebe an, schrie und schluchzte am ungeheizten Ofen, der Fensterriegel sei nicht zu gewesen in der Nacht, sie hätte es vergessen am Abend. Sie hielt auch einen alten Zettel von Antonie in der Faust; auf dem stand, Valentin solle ihre Puppe nicht bekommen, wenn sie wieder krank würde. „Da ist nun der Lumpen. Kommen Sie doch bloß mal rauf zu uns, Herr Priebe.‟ Valentin riß die kleine Ella bei der Schulter herum; sie solle ausspucken hinter der Frau; den Vater fuhr er an, wie er die Tür vor so was aufmachen könne. Das Kind bockte: „Grade machen wir die Tür auf.‟

Nachdem man in der folgenden Woche Valentin nahegelegt hatte im Büro, wegen seines maßlosen Brüllens mit dem Personal und wegen des unmotivierten Herumskandalierens in Urlaub zu gehen, zog er, ohne sich von Vater und Schwester zu verabschieden, nach der Woltersdorfer Schleuse und nahm ein möbliertes Zimmer. Der Wirtin erzählte er, man habe ihn beneidet in Berlin und ihn für einige Zeit kaltstellen wollen; natürlich Weibergeschichten, die unvermeidlichen Weibergeschichten; drei Wochen würde er bleiben. Er sprudelte in anklagender Rede von Gemeinheiten, Ruchlosigkeiten, die man gegen ihn begangen habe. In einer Sofaecke im dunklen Zimmer brummelte er, holte die Puppe zur Spielerei aus seinem Koffer. Der Wirtin erklärte er, man müsse sich mangels anderer Gesellschaft irgendwie unterhalten. Heiß schluchzend überfiel er den scheckigen Lumpen, pfiff: „Wir haben uns mit solchen Sachen aufzuhalten, Toni, wir könnten ganz anderes im Kopf haben.‟ Trostlos und verzweifelt weinte er drin so laut, daß die Wirtin ein Kreuz vor der Tür schlug.

Als die Frau beim Richten ihrer Resedenstöcke sagte: „Sie werden die Sachen schon überwinden,‟ meinte er mit schiefem Grinsen: „Wir haben Kräfte, liebe Frau. Was glauben Sie von uns? Wir werden das den Leuten heimzahlen mit Zins und Zinseszins. Lassen Sie uns mal wieder zu Haus sein.‟ Und er sang so schön: „Wenn das der Petrus wüßte‟, daß die Wirtin mit dem Kopf nickte: „Gott, haben sie eine Stimme, Herr Priebe.‟

Er dampfte schon nach zwei Wochen, Ende April, ab: „Der Landaufenthalt ist nichts für Berliner, wenigstens nicht für mich.

Er packte zu Hause seine Sachen in den Schrank, kaufte sich einen grünen Schlips, einen Lavallier, der offen vor der Weste wehen konnte. Für elf Uhr abends verabredete er sich mit seinem Freund Lorenz, dem Kassierer. Er pomadisierte sich, als man drin schlief, zog neue graue Gamaschen über die Schuhe, schraubte die Hängelampe hoch, um sich vor dem Spiegel an seinen Bewegungen zu erfreuen. Da sah er aus dem schweren Holzkoffer einen Puppenarm ragen. Er kehrte dem Koffer den Rücken, rümpfte die Nase, sprang nach kurzem Herumstehen auf den Koffer zu, stopfte den Arm zurück. Wie er die Bartbinde abnahm und schräg nach hinten sah, ragte der Arm wieder hervor. Valentin riß den Deckel hoch, schmiß die Puppe in die Mitte des Wäschebündels, schiefte gehässig: „Den Dreck werd‘ ich dir. Dich rausholen. Die Zeiten sind vorüber. Den Dreck. Rin in die Kommode.‟ Der Deckel schmetterte herunter. Im Spiegel sah er bewegungslos, wie der Deckel zitterte. Sich langsam hob, die Puppe durch die Spalte auf ein Handtuch am Boden raschelte. Mit plumpen Schritten, die Arme in Boxerstellung, bewegte sich Valentin in Hemdsärmeln auf das Handtuch: „Zeitversäumnis! Gemeiner Ulk!‟ Wie ein Stehaufmännchen wippte die Puppe auf der Diele und fiel wieder hin. Valentin gegen sie her. Sie schnellte, zappelte und kam vorwärts. Als er wuchtig über sie stürtzte, stand sie am Spind, schlüpfte in den weißen Mondschein und glitt leicht gegen die Tür. Knarrte die Schwelle; mit einmal war die Puppe nicht mehr in Zimmer. Den Hut stülpte Valentin wutgeschwollen auf den glatt gekämmten Schädel, schlug auf die Türklinke. Da schwang sich am Treppenabsatz das feine Geschöpf grade über das finstere Geländer.

Er stand im kalten Luftzug im Türrahmen; die Jacke unter dem linken Arm, der Riemen einer Gamasche hin. Er winzelte, die Schultern senkend: „Heiliger Gott, was soll das? Soll ich Vatern wecken?‟ schlich schon die Stufen herunter, dem schleifenden Geräusch nach. Wie er durch den langen Hausflur stolperte, flüsterte er: „Du, du, halt, bleib doch stehen. Ich–ich hab’ nichts getan. Ich nehme dich mit zu Lorenz.‟

Nach, nach.

Hagelwetter in der Brunnenstraße. An der Gaslaterne schlüpfte sie im Bogen herum. Große Schritte machte er schon, sie immer größere. Sie wuchs, war wie ein Junge, wie ein Mann. Stralsunderstraße. Er schwenkte seine Jacke in der Linken, schluckte Hagelkörner ein. Sie bog in die Hussitenstraße ein, hielt an der Ecke an, war breit wie ein Pferd. Er lief auf sie auf, saß, wie sie sich duckte, schwankend auf ihren Schultern fest, und sie rannte mit ihm fort.

Er biß in ihren Kopf. An der Sebastiankirche hörte er die ersten grunzenden Laute von unten, schüttelte an ihrem Hals, wimmerte: „Ich will ja erhlich sein.‟

Höhnend kam es herauf: „Willst du das? Willst du das?‟

„Du kannst mich nach Hause lassen. Was hab’ ich schon ausgehalten?‟

„Noch nicht genug.‟

Sie rasten vorbei an einem Schutzmann; der schnaubte sich die Nase. „Was hat der Mensch für einen Gang am Leibe! Hoppe, hoppe, Reiter.‟

Valentin wollte den Schutzmann anrufen, es ging zu rasch. Er heulte in den Wind. „Ich verlier’ meinen Hut.‟

„Brauchst keinen Hut.‟

„Meine Jacke, meinen Kragen.‟

„Kannst nackt kommen.‟

Greinend schlug Valentin die Hände vor die roten Augen: „Ich will nichts mehr wissen von diesen Sachen. Werd’ ich doch mal den kleinen Lorenz fragen, was er dazu meint.‟

Die Gleise der Maschinenfabrik tauchten auf, ganz in Finsternis gelagert. Valentin brüllte, warf sich: „Keiner hilft, keiner hilft.‟ Die Puppe hielt ihn fest wie Kautschuk. Und während er kratzte, mit Armen und Beinen in den weichen Massen wühlte und sich wand auf seinem Sitz, kam der schwarze Humboldthain heran, menschenleer, mit Eisengeländern, starren Bäumen.

„Hi, hi, hi!‟ würgte er. Dröhnend lachte die Puppe: „Nimmst du mich mit zu Lorenz?‟ Der leere Vorplatz. Der tintige Teich dehnte sich. Sie lockerte seine Beine; schnellte zusammen. Mit einem Ruck sauste er kopfüber in das Wasser.

Sie stürzte sich glucksend nach. Er schluckte hochsteigend. „Ich sterbe schon, laß mich los.‟ Wie ein Schlagbaum lang war ihr Arm, mit dem sie ihn unter das Wasser drückte: „Es fängt erst an! Verlogener Hund!‟ Das Wasser spritze nach allen Seiten; sprudelte, gurgelte minutenlang. „Verfaulen sollte ich dich lassen.‟

Schräg über den Teich prasselte der Hagel in der Finsternis.