Das Schwimmbad befüllen

Mercedes Spannagel

Artwork by Naomi Segal

Es war ein Donnerstagnachmittag, es wurde schon kälter und früher dunkel, der Himmel über uns war rosa, als wir das Schwimmbad besetzten und dieses Foto schossen, von uns, wie wir am Rand des Beckens saßen und unsere Füße baumeln ließen, in die Leere des Beckens hinein. Lea und Sib und ich, ich saß in der Mitte, und wir berührten uns alle nicht im geringsten, ich hatte mich zurückgelehnt, die Arme durchgestreckt, die Ellbogen zueinander gedreht, und ich erinnere mich an die Beschaffenheit der Steinplatten, die um das Becken gelegt waren, bevor die Wiese anfing. Ich erinnere mich an ihre helle Farbe und die Kälte, die anfing von ihnen auszugehen, und die raue Oberfläche. Später sah ich mir das Profil in meinen geröteten Handflächen an. In dem Moment vermisste ich die starke Sonne vergangener Sommertage sehr. Auf dem Foto hatte ich geschlossene Augen. Lea ließ nur ein Bein baumeln, das andere hatte sie angewinkelt und auf dem Rand abgestellt, was mich ärgerte, was ich ihr auch sagte, dass sie sich herausnehmen würde, sie würde nicht so im leeren Raum hängen wie Sib und ich. Sib trug eine dunkle Mütze, von der ich ihr die Ränder gelegentlich über die Ohren hochkrempelte. Sib lachte dann und zog sie wieder hinunter, ich krempelte sie wieder hoch. Weil sie die Mütze trug und die Sauerstoffmaske, sah man von ihrem Gesicht nur mehr die Augen. Ich mochte es, wie man das Lachen an ihren Augen sehen konnte, auch wenn man ihren Mund nicht immer sah.

Lea sagte zu mir: Junge, bist du schon wieder dabei etwas überzuinterpretieren.

Hinter uns standen dunkle Tannen und der Himmel darüber, eine Spur rosa, sagte ich, Lea sagte, gräulich, ich sagte: grauenvoll. Lea sagte: Haha. Wir trugen lange Hosen und Pullover über unseren T-Shirts; es war bereits kühl.

Sib saß breitbeinig und hielt die Sauerstoffflasche dort zwischen ihren Beinen. Sie grinste, man sah es durch die Sauerstoffmaske. Was nicht auf dem Bild war: Sibs Rollstuhl. Er stand etwas weiter weg da, schief auf den Steinplatten, als würde er nicht dazugehören.

Der Bademeister und ich hatten Sib aus dem Rollstuhl gehoben und an den Beckenrand gesetzt. Sib hatte ihn gefragt, ob er ein Foto von uns dreien machen könne. Der Bademeister hatte Sibs Handy genommen und war losgegangen. Er war in seinen Flip- Flops um den Pool herumgeschlappt. Der Pool hatte helle, türkisfarbene Wände und am Boden waren dunkle Linien zur Trennung der Bahnen. Es war ein Becken, in dem es nicht reichte, sich abzustoßen, um an die andere Seite zu gelangen. Die Tiefe nahm von der einen zur anderen Seite zu oder ab, je nachdem wie man das Becken anschaute. Im Grunde genommen war der Pool nichts weiter als ein sauberer, rechteckiger Aushub.

Danach kam der Bademeister wieder zu uns zurück geschlappt, gab Sib das Handy, setzte sich neben sie und seine Beine hingen gefühlt doppelt so lang wie unsere in den Pool hinein, ein derart großer Mensch war er, und ich war nicht klein. Er sah Sib an als hätte er Angst um sie. Als hätte er Angst, sie könnte jeden Moment das Gleichgewicht verlieren, in den Pool fallen, in den leeren nämlich.

Der Bademeister saß da, Hände auf den Oberschenkeln, Rücken gebeugt. Er fragte Sib: Wie ist das passiert? Vor ein paar Tagen konntest du noch gehen. Als ich euch auf den Boulevard zufahren gesehen habe. Auf euren Skateboards.

Lea sagte an mir vorbei: Wir sind auf unseren Skateboards auf den Sonnenuntergang zugefahren an dem Abend.

Ich sah Sib nicken, ihr Blick war nach vorne gerichtet. Ich war mir nicht sicher gewesen, ob Sib davon erzählen wollte, aber nun traute ich mich zu sagen: Wir haben die eine Straße zum Meer genommen, die ziemlich lange Straße. Die an einer Anhöhe beginnt, zwischen zwei Villen, die man von der Straße kaum sieht hinter ihren wilden Gärten.

Der Bademeister sagte: Achja, ich weiß schon wo.

Von der Anhöhe sieht man das Meer bereits. Auf der Anhöhe kann man damit beginnen eine Sehnsucht zu entwickeln, sagte Sib, lachte in ihre Maske hinein und schaute immer noch keinen von uns an.

Wir wollen zum Meer, sagte ich.

Lea sagte: Von der Anhöhe sieht man, dass die Sonne am Untergehen ist.

Sib sagte: Ich weiß, dass Ebbe ist an dem Abend. Im Gezeitenplan, den ich aus dem Tourismusbüro habe, den ich sorgfältig studiert habe steht: Ebbe.

Wir werden es an dem Abend nicht zum Meer schaffen.

Wir werden nicht überprüfen können, ob tatsächlich Ebbe ist.

Wir haben eine Sehnsucht nach dem Meer entwickelt und können diese nicht befriedigen. Wir stehen auf unseren Skateboards, es geht bergab. Wir sehen weniger vom Meer als vorhin, von der Anhöhe, immer weniger. Neben uns ziehen die kleinen Häuschen vorbei mit spitzen roten Dächern und bunten Fensterläden. Die verblichenen Häuser mit den Fensterläden, von denen die Farbe abgeblättert ist, darunter farbloses Holz. Es rauscht in unseren Ohren, es ist der Wind der braust, das Meer hören wir noch nicht.

Da konntest du noch stehen, aufrecht, der Rucksack mit der Sauerstoffflasche auf deinem Rücken, die Maske vor deinem Mund.

Wie seltsam wir ausgesehen haben müssen, sagte ich.

Immer seltsam, sagte der Bademeister und lachte. Niemals nicht seltsam.

Wie wir drei auf den Skateboards stehen und den Hang hinunterfahren. Wir fahren fast parallel.

Unheimlich auch ein wenig, sagte ich. Es ist abends, es ist nicht mehr lang, dann ist es dunkel. Ich weiß nicht, wer von euch beiden ungesünder aussieht. Deine Haare, Lea, flattern im Wind. Dein Gesicht ist blass und eingefallen, es ähnelt immer mehr einem Totenkopf. Ist diese Entwicklung noch aufzuhalten, ich glaub nicht, sagte ich zu Lea. Wenigstens entwickeln wir uns, während du immer gleich bleibst, sagte Lea zu mir. Ich habe dich beobachtet, wie du auf dem Skateboard gestanden bist. Du musst aufrechter stehen, du hast eine schlechte Haltung. Du wirkst so unsicher. Kannst du diese Unsicherheit irgendwann ablegen, Junge, ich glaub nicht.

Ok, gut, sagte Sib, irgendwann bin ich gestürzt. Ich kann noch sagen, wie tief da die Sonne am Himmel hing. Ich habe mir den Abstand zum Horizont gemerkt. Ich habe mir kurz vor dem Sturz gedacht; so tief hängt also die Sonne über dem Horizont. Ich könnte also noch sagen wann. Ich könnte noch sagen wo, in dieser Straße, auf dem Weg zum Meer.

Ich habe gesehen wie ihr das Skateboard unter den Füßen weggleitet und noch ein Stück weiterrollt. In meiner Erinnerung sehe ich es noch rollen, sagte ich. Ich weiß nicht, warum ich den Blick lange auf dem Skateboard habe und dann erst auf Sib, die am Boden liegt.

Sib liegt am Asphalt, zusammengekrümmt. Auf den ersten Blick: Sib weint. Auf den zweiten Blick: Aufgeschürfte Hände und Knie. Ich knie mich zu ihr, ich streichle ihr die Handflächen, ich puste darauf, sagte Lea.

Ich liege auf der Straße und weiß was der Fall ist. Ich weine deshalb. Ich weine, weil ich es weiß und die anderen nicht. Wie sie dann beide neben mir knien und noch nichts wissen, sagte Sib.

Ich habe mich auch hingekniet, aber ich will, dass sie beide aufstehen. Dass sie beide aufstehen und dass Lea Sib im Stehen in die Handflächen pustet. Ich will, dass sie sofort aufstehen und die Straße räumen. Sib liegt mitten auf der Straße. Ich denke an ein angefahrenes Tier. Ein verwundetes Tier. Ich überlege, welche Tiere am meisten durch Autos sterben. Ich überlege mir, es muss doch Statistiken geben.

Typisch Mathematiker, sagte Lea. Du bist jemand, der dann sagt: Ich habe alle Fälle berechnet, dieser ist unmöglich. Du versuchst Sicherheit in Berechenbarkeit zu finden. Du doch auch, sagte ich. Du bist doch schließlich mit mir zusammen.

Lea sah mich an, ich fühlte mich sehr fremd.

Sib sagte: Zuerst will ich mir noch Folgendes einreden: In einem Garten ist jemand gestanden und hat mich angeschaut, über den Zaun, über den Rhododendronstrauch, mir direkt in die Augen und ich habe meinen Blick nicht abgewendet, ich habe meinen Kopf zu diesem Jemand in dem Garten gedreht und schaue, auch als ich bereits vorbei gerollt bin, noch zurück. Und dann ist es passiert. Zuerst denke ich, der Sturz ist das Resultat einer Abgelenktheit.

Ich sagte: Ich habe niemanden gesehen.

Lea fragte: Welchen Garten meinst du?

Sib sagte: Da war jemand, aber das hat nichts mit meinem Sturz zu tun. Ich liege da dann auf dem Asphalt, ich lege den Kopf ab, ich spüre die Unebenheiten des Asphaltes an meiner Wange, an meinem Ohr, ich lausche. Ich lausche in mich hinein. Es ist grausam, was ich höre.

Wir schwiegen. Das Schweigen kam mir unerträglich lang vor, ich musste es brechen, ich musste einfach etwas sagen, ich sagte also: Ich denke immer nur an ein angefahrenes Tier. Kratz die Reste vom Asphalt. Der nächste Regen wäscht das Blut weg. Ich habe noch nie ein angefahrenes Tier gesehen, eines, so groß wie Sib.

Lea sagte: Sib blutet aus der Schürfwunde am Knie, stelle ich fest. Der Himmel ist rot wegen der Sonne. Junge, du nimmst Sib so am Arm, ich schau dich an; geht’s noch.

Sei nicht so grob, hast du gesagt, was ist los mit dir, Junge. Sie soll aufstehen, habe ich gesagt.

Sib hängt in unseren Armen, wir stützen sie, sie ist schwer mit dem Gewicht der Sauerstoffflasche zusätzlich, wir wollen sie hinstellen, abstellen. Wir machen den Fehler einmal, einer lässt los, und sie sinkt sofort wieder zusammen. Wir wollen es nicht glauben. Ich liege noch am Boden und weiß, ich werde nicht mehr stehen können, sagte Sib. Ich habe Angst, es den anderen zu sagen. Ich habe Angst vor der Sache selbst.

Die Erkenntnis kommt schnell, aber sie ist nicht leicht, sagte Lea. Sie macht uns ratlos. Sib hängt ihre Arme über unsere Schultern und so schleppen wir sie zum Straßenrand, setzen uns auf den Bürgersteig. Sib hat geschlossene Augen und zwischen den Wimpern Tränen.

Die Straßenlaternen leuchten schon eine ganze Weile, da sitzen wir immer noch.

Später tragen wir Sib gemeinsam ins Hotel zurück, wir tragen unsere Skateboards auch. Der Portier sieht uns an, er sieht kurz so aus, als würde er Anstalten machen, etwas zu unternehmen, den Mund aufzumachen oder sich zu bewegen, aber dann sind wir auch schon vorbei an ihm. Der Teppichboden des Hotels verschluckt Beweise unserer Existenzen. Wir könnten hier verloren gehen in den trüb beleuchteten Gängen des Hotels. Ein paar Falter flattern um die Beleuchtung. Wir sind müde.

Ich möchte in die Badewanne, sagte Sib.

Sib möchte in die Badewanne, wir legen sie dort hinein. Ich sehe Leas zusammengepresste Lippen. Ich sehe die tiefen Schatten unter ihren Augen. Ich möchte auch weinen, wie Sib vorher, weil wir Sib in die Badewanne hineinsinken lassen, wie in ein Grab. Sib weint nicht mehr. Niemand weint. Lea dreht den Wasserhahn auf.

Danke, sagte Sib. Danke, dass ihr mir beisteht.

Zum ersten Mal seit wir angefangen hatten zu erzählen, schaute sie wieder in unsere Richtung, aber sie tat es nur kurz.

Ich sagte: Wir lassen Sib im Bad.

Da weiß ich, sagte Lea, dass wir etwas tun müssen. Die Sauerstoffmaske muss sie seit Monaten tragen, es hat sich nicht gebessert. Wenn ich es so betrachte, dann würde ich sagen, Sibs Zustand verschlechtert sich.

Ich sagte nicht, als wir da so am Beckenrand saßen und der Himmel von den Farben her ein anderer war als noch auf dem Foto, dass ich in dem Moment daran gedacht hatte, als sich Lea und ich auf das Hotelbett gesetzt hatten und es leicht eingesunken war, wie es wäre, Sib tragen zu müssen, dahin und dorthin, dass ich es gerne machen würde, dass ich gerne für sie da wäre.

Das Hotelbett war zu weich gewesen für unsere Verhältnisse und so ungewöhnlich weit über dem Boden. Ich hatte mich ertappt dabei, wie ich mich sofort am ersten Abend in dem Hotel vor dem schlafen-Gehen gebückt hatte, um zu sehen, was unter dem Bett war; auf dem Teppichboden hatte ein Schnuller gelegen und sonst nichts Verdächtiges. Er liegt dort möglicherweise immer noch.

Lea hatte sich an den Rand des Bettes gelehnt, hatte sich das T-Shirt ausgezogen, ganz offensichtlich meines. Ich war schon am Bett gesessen, hatte mich vorgebeugt, meine Finger auf die sichtbaren Wölbungen ihrer Wirbelsäule gelegt, sie war zusammengezuckt, ganz leicht, aber ich hatte es gemerkt, ich hatte es nicht verstanden, ich hatte meine Finger von ihrer Haut genommen und sie hatte nichts dazu gesagt, sie hatte sich nicht einmal umgedreht. Am nächsten Tag sah ich, dass sie sich wünschte, nicht zusammengezuckt zu sein bei meiner Berührung.

Am nächsten Tag kaufen wir einen Rollstuhl, sagte Lea.

Zum Bademeister gewandt sagte sie: Wir treffen dich wieder in dieser Stadt, die nicht groß ist. Es ist ein Zufall. Es hätte kein Zufall sein müssen, weil wir auch deine Nummer haben. Wir nehmen dein Angebot an. Und deshalb sind wir jetzt hier.

Der Bademeister sagte, was für ein Pech man haben müsste, sich bei einem Sturz vom Skateboard beide Beine zu brechen. Der Bademeister legte seine Hand kurz auf Sibs Schulter.

Wir saßen da und schwiegen. Ich sah in das leere Becken. In dem leeren Becken gab es nichts von Interesse zu sehen.

Der Bademeister fragte: Aber wo ist der Gips? Wir schwiegen weiter.

Sib sagte dann, als ich dachte, es würde nichts mehr dazu gesagt werden: Ich habe seit Tagen ein schwächer-Werden der Beine gespürt. Ich habe nichts gesagt. Manchmal will man Sachen nicht aussprechen, weil man Angst hat, dass sie dann erst Recht eintreten. Mir ist morgens passiert, beim aus-dem-Bett-Steigen, dass ich kurz dachte ich würde zusammen sinken. Danach bin ich eine Stunde am Bettrand gesessen mit zittrigen Knien bevor ich mich wieder getraut habe aufzustehen. Danach war alles wie immer. Am Abend dachte ich, es war vielleicht ein schlechter Traum.

Aber warum hast du uns davon nichts gesagt, fragte ich. Sib wich meinem Blick aus. Lea kniff mich durch den Pullover in die Haut an den Hüften, es tat weh. Ich ärgerte mich.

Das war jetzt das erste Mal seitdem, dass wir überhaupt darüber gesprochen haben!

Der Bademeister schüttelte den Kopf und sagte, dass er nicht viel verstehe, von dem was passiert sei, was mit Sib passiere und überhaupt, aber dass das ja auch ok sei.

Lea zog ihr eines Bein aus dem leeren Becken, setzte sich in den Schneidersitz, und weil ich zwischen ihr und den anderen saß, schaute sie mich zuerst an, ich fühlte mich, als würde ich im Weg sitzen, ich fühlte, dass es so nicht weitergehen könne, mit uns beiden. Sie aber sagte und meinte etwas gänzlich anderes, sie würde jetzt lieber darüber reden wie es weiter gehe, denn es gehe weiter.



This short story was originally published in German in Lichtungen #160/2019.