Am Leben Verlassen

Kathrin Schmidt

Artwork by Vladimír Holina

Mechthild Barfüßer legt sich auf den Rücken. Sie hat den Heideschleimfuß gefunden, den Samtfußrübling, den Frostschneckling. Das Körbchen mit Pilzen steht neben dem Kopfende ihres Bettes auf dem Fußboden. Bedächtig zerkaut sie die anzüglichen Namen der Schwämme. Besonders der Rübling hat es ihr angetan, sie bohrt sein Samtfüßchen in ihren Nabel, sie drückt sein Helmchen hinter der Ohrmuschel aus, sie isst es roh und wartet auf den Wahn. Der will nicht kommen, denn Samtfußens Rübling ist ein lieber Kerl voller Sehnsucht nach Kochtöpfen und Bratpfannen. Nichts da mit halluzinatorischem Ausgang. Mechthild Barfüßer versucht den Schleimfuß der Märkischen Heide. Auf dem Venushügel reibt sie ihn trocken, der Schleim rührt auf fatale Weise an den Grund ihres Wunsches, die Welt zu verlassen. Unter der Achsel zerdrückt sie Pilz um Pilz, bis ein Häufchen Matsch sich gesammelt und Saft abgesondert hat. Den schlürft sie auf, dreht sich dazu auf den Bauch und geht mit der Zunge durchs Pilzmark. Nicht schlecht, ein bisschen wie Mandel mit Brot. Mechthild Barfüßer, wieder auf dem Rücken, wartet auf den Wahn. Der will nicht kommen, denn Heidens Schleimfuß ist wie der Rübling kein Bösewicht, nur ein kleines, verschleimtes Männchen, wie es sie überall gibt. Was nun? Den Frostschneckling zertritt Mechthild Barfüßer entschieden mit dem linken Nacktfuß auf der rechten Wade, reibt sich den Seim auf die Fesseln und dämmert hinüber in zwei zu gleicher Zeit nebeneinander herlaufende Träume. Unentschieden, welchen der beiden sie einem gütlichen Ende zutreiben soll, springt sie zwischen den Handlungen hin und her, lässt sich schwächen von den Abenteuern des einen, den Enttäuschungen des anderen Geschehens und erwacht nach sieben Stunden in der unverrückbaren Annahme, sie sei nun tot. Sie erhebt sich, um einen Kaffee zu kochen, der Morgen scheint nicht anders als zu Lebzeiten, die Sonne steigt behend ins Fenster und Mechthild Barfüßer sucht nach einem Fahrschein. Sie hat früher einmal in einer Hutfabrik gearbeitet, Filz gedämpft und zu kopfgroßen Halbkugeln aufgetrieben, Krempen gesäumt und Federn in Acetatseidenbänder gefasst, Straß aufgenäht auf die zierlicheren der Kappen oder Tüllschleier befestigt, hin-ter denen Witwen wie Bräute Freude wie Leid verbergen konnten. Putzmacherin war sie gewesen und mit wechselnden Hüten auf dem Kopf durch ein kleinstädtisches Leben geschritten bis auf den Tag, da ihre Fabrik einem »Gewerbegebiet« genannten Gebilde einverleibt wurde und man ihr eine Umschulung anbot zur Wirtschaftskauffrau. Sie hatte eingewilligt, was sollte sie tun mit ihren alten Hüten im Schrank, und war fünf Tage die Woche auf Lehrgang gefahren in die nächstgrößere Stadt. Dort war sie eines Tages dem späteren Grund ihres Wunsches, die Welt zu verlassen, begegnet: Er erschien in Gestalt eines schweren, wenngleich etwas klein geratenen Mannes von mittlerem Alter. Hastig und mit eingezogenem Kopf lief er an jener Bäckerei vorbei, in der Mechthild Barfüßer eben im Begriff gewesen war, sich ein belegtes Brötchen für die Lehrgangspause zu kaufen. Nun aber ramschte sie ihre Münzen wieder zusammen, ließ die Bäckersfrau mit der verpackten Semmel stehen und folgte dem späteren Grund ihres Wunsches, die Welt zu verlassen, aufs Arbeitsamt. Sie setzte sich neben ihn, der sie nicht einmal bemerkte, und wartete ab, bis er mit rotem Kopf aus dem für ihn zuständigen Zimmer wieder heraustrat, herausstolperte, hinschlug und liegen blieb. Das war ihre Chance, wusste Mechthild Barfüßer, lief aufs Klo, wässerte ihr frisches Taschentuch und drückte es kurz darauf dem späteren Grund ihres Wunsches, die Welt zu verlassen, auf die geschwollene Stirn. Die Mannsgestalt erwachte aus einer kleinen Ohnmacht, hinter der Mechthild Barfüßer sofort eine viel größere vermutete, und schlang ihre kurzen Arme um Mechthilds Schultern, an denen sie sich in die Höhe zog und auf die Füße kam und deren Jackettknöpfe sich dabei in fünf Mantelknöpfen verfingen und die so nicht loskam von Mechthilds Brüsten. Dort musste sie noch eine Weile ausharren, denn es dauerte, bis die Knöpfe einander freigaben. Mechthild Barfüßer schaute in zwei schwere, etwas klein geratene Männeraugen und las tief auf den Netzhäuten von Verlorenheiten, Verletzungen und Verirrungen, die ihr nicht fremd vorkamen, sodass sie den späteren Grund ihres Wunsches, die Welt zu verlassen, bei den Händen nahm und ihn fortzog in den Vorortzug, mit dem beide, ohne ein Wort miteinander geredet zu haben, Mechthilds Kleinstadt erreichten. Sie stürzten die Treppen hinauf zur Wohnung und gerieten dort derart ineinander, dass ihnen auch weiterhin die Luft zum Reden fehlte und Mechthild Barfüßer sich auch jetzt noch daran erinnert, da sie, wie sie glaubt, längst tot ist und in ihren Taschen nach einem Fahrschein sucht. Sie hat vor, in der nächstgrößeren Stadt noch einmal nach dem einstigen Grund ihres Wunsches, die Welt zu verlassen, zu suchen und zu sehen, wie er die Nachricht aufnehmen wird, dass sie sich mithilfe kleiner märkischer Pilze tatsächlich davongemacht hat. Aber einen Fahrschein kann sie nicht finden. In ihren Jacken- und Manteltaschen findet Mechthild Barfüßer Brotkrümel und ein Taschenmesser, zwei vollgeschnupfte baumwollene Taschentücher, einige Büroklammern, die sie zu Lebzeiten ins Schmalz ihrer Ohren gebohrt hat, fünf Briefe der Mannsgestalt aus besseren Tagen und einige unterdessen eingetrocknete Pilzstümpfe. Sie beschließt, ohne Fahrschein zu fahren. Sie ist ja jetzt tot, niemand wird sie wahrnehmen (niemand wohl auch vermissen), sie kann nun, da sie tot ist, ganz ungeniert schwarzfahren. Das wird einen Heidenspaß machen, redet sich Mechthild Barfüßer ins schlechte Gewissen und beginnt zu weinen. Zum ersten Mal, seit sie tot ist, wundert sie sich: Sie muss über den Tod hinaus weinen, wo sie sich von ihm doch eine Befreiung von allen Kümmernissen versprochen hat. Das größte dieser Kümmernisse war gewesen, dass die Mannsgestalt sich über Monate geweigert hatte, Mechthild Barfüßer in einen Wochenurlaub zu schicken, den sie sich seit vielen Jahren sehnlichst und viel stärker als Reisen in ferne Länder gewünscht hatte. Mechthild beginnt zu heulen und zu schreien, niemand kann sie ja hören. Es wäre nun höchste Zeit gewesen für einen Wochenurlaub, sie hatte die Vierzig schon überschritten, als sie dem späteren Grund ihres Wunsches, die Welt zu verlassen, heillos verfiel, aber es hätte durchaus noch klappen können mit einem schweren, etwas klein geratenen Kind mit einem schönen Kopf für die verschiedensten Hüte. Der spätere Grund des Wunsches, die Welt zu verlassen, hatte nicht recht verstanden, was Mechthild Barfüßer so maßlos erregt hatte, als sie sich trafen: Er roch nach Maus wie seine muffige Wohnung, die er mit einer alten Witwe teilte, er roch zuweilen auch nach der alten Witwe, was Mechthild aber nur noch stärker zu reizen schien, und er hatte kein Geld, was auch die häufigen Besuche beim Arbeitsamt nicht ändern konnten. Mechthild Barfüßer dagegen befand sich, so schien ihm, mitten in einem wohlgeordneten Leben, sie schulte sich um, sie trug manchmal ganz reizende Hüte, die sicher viel Mut erforderten, und nie roch sie von sich aus nach Maus oder nach alter Witwe. Sie war wohl etwas jünger als er selbst, und dass sie sich für ein ganz schütteres Lichtchen hielt, wäre ihm nicht im Traum eingefallen. Was also konnte sie an ihm finden, hatte sich der Mann gefragt, den Mechthild, da er sich hartnäckig weigerte zu sprechen, einmal Werner genannt hatte und dabei geblieben war. Mechthild Barfüßer hielt Werner noch lange nicht für den Grund ihres Wunsches, die Welt zu verlassen, als sie sich auf, über, unter ihm verrenkte, ohne dass das geschehen wäre, wovon sie sich eine Erfüllung ihrer Bitte hätte versprechen können. Erst als sich die Abende und Nächte in steter Trockenheit wiederholten, wurde sie traurig und trauriger, öffnete manchmal, später häufiger, nicht mehr die Tür, an der die trockene Mannsgestalt eines Tages zu weinen begann und fortan ausblieb. Mechthild Barfüßer fühlte die Nähe der Menopause, als sie beschloss, Pilze zu sammeln. Nun sieht sie das Körbchen neben dem Kopfende ihres Bettes. Nun weiß sie, dass sie längst tot ist und dem Grund ihres Wunsches, die Welt zu verlassen, gern noch einen Wink gäbe. Auf dem Kopf einen duftigen Federhut, den sie zu Lebzeiten nun wirklich nie aufzusetzen wagte, stolziert sie zum Bahnhof und steigt in den Neunuhrzug in die kleine, wenn auch nächstgrößere Stadt. Hinter ihr besteigt der Grund ihres Wunsches, die Welt zu verlassen, die Eisenbahn, denn er hat die ganze lange Nacht in ihrem Hausflur geschlafen wie schon viele Nächte vorher und folgt ihr nun auf dem Fuße, will er sie doch zu einer Rückkehr bewegen. Ins Leben, denkt Mechthild Barfüßer. Unter mich, denkt der einstige Grund ihres Wunsches, die Welt zu verlassen, und wirft die tote Mechthild auf die kunstlederne Bank, sich längs darüber, und wär sie nicht tot, denkt Mechthild, könnt es passiert sein. Muss eine erst sterben, dass sich ein Mann Gedanken macht um die Zukunft? Mechthild ist sauer. Der Kontrolleur geht vorüber, er kann mich nicht sehen, denkt Mechthild, die nun glauben muss, Werner sei herübergekommen zu ihr in den Tod, wie hätte er sonst ihren Eingang finden können, und der Tod beginnt ihr nun richtig zu gefallen. Sie wundert sich später noch ein bisschen, dass sie nicht abgeholt wird aus ihrer Woh-nung, in die auch der tote Werner endlich einzieht, dass sie nicht in einen billigen Sarg gelegt wird neben den einstigen Grund ihres Wunsches, die Welt zu verlassen. Doch bald hat sie zu tun mit dem Ändern ihrer Röcke und Hosen, sie geht wieder zur Umschulung, wo alle so tun, als sei sie noch am Leben. Mechthild lässt ihnen das. Wozu sie darauf stoßen. Gern brät sie sich Heideschleimfuß und Samtfußrübling in Butter, denn jetzt, im Tod, sind die gar nicht gefährlich. Und schließlich bringt sie ein schweres, etwas klein geratenes Kind zur Welt, hat einen schönen Wochenurlaub und geht mit dem einstigen Grund ihres Wunsches, die Welt zu verlassen, spazieren. Wenn ich noch am Leben wäre, denkt sie, wäre das nicht passiert. Und streichelt die Pilze am Wegrand wie der große Federhut ihren Kopf.



The original, “Am Leben verlassen”, was published in the short story collection Finito. Schwamm Drüber. Erzählungen (Kiepenheuer & Witsch Publishing, Cologne, 2011).