An meine Mitmaschinen

Heinz Helle

Illustration by Shuxian Lee

Früher, wenn ich entlang der Ausfallstraße über die Eisenbahnbrücke ging, sah ich manchmal nach oben, zur Fensterfront über dem Autohaus, und ich sah hinter dem Glas eine Reihe Geräte mit Pedalen und langen Stangen, und Menschen, die in die Pedale traten und dabei die Stangen drückten und zogen, sie bewegten sich rhythmisch und gleichmäßig, und ich hatte jedes Mal denselben Gedanken: Ich verstehe euch nicht. Heute stehe ich selber da oben. Ich war einige Male nachts aufgewacht, mit Rückenschmerzen, und nachdem ich mich eine Weile gefragt hatte, ob ich schwer krank sei oder nur etwas wehleidig, sagte mir jemand, es helfe, sich zu bewegen. Also bewege ich mich, ich trete auch in ein solches Gerät hinter Glas, es heißt Crosstrainer, ich drücke und ziehe daran, der Himmel ist grau, und ich höre keine Musik hier, im Fitnessstudio, weil ich die Idee eines Fitnessstudios eigentlich immer noch ablehne, aus ästethischen Gründen, aus Faulheit und irgendwie auch wegen des Kapitalismus. Ich habe den Entschluss gefasst, die Zeit hier maximal sinnvoll zu nutzen, also höre ich französischsprachige Podcasts, Histoire Vivante, Le Masque et la Plume, France24, und es dauert einige Wochen, ehe ich merke, dass ich deutlich schlechter Französisch kann, als ich dachte, und eigentlich keine Ahnung habe, worum es geht. Doch statt wie sonst beim ersten Anflug von Frustration nach Hause zu gehen, beschließe ich, etwas Einfacheres zu hören, etwas Vertrautes, eine Geschichte, die ich schon kenne, also öffne ich den Browser meines iPhones und suche zuerst nach Märchen, französische Fassungen der Gebrüder Grimm, finde “Hänsel und Gretel”, höre eine Weile zu, merke, dass ich diese Geschichte doch nicht so gut kenne, versuche es dann mit dem Buch Genesis, au début était la Parole, und lasse es sein. Und genau in diesem Moment, das ist wirklich wahr, sehe ich durch die Glasfront vor meinem Crosstrainer einen Raubvogel über Sozialwohnungen kreisen, und die Blätter der Birken zwischen dem Autobahnzubringer und der Eisenbahnbrücke leuchten gelb. Und obwohl ich auf meinem Telefon keine Musik gespeichert und iCloud schon lange deaktiviert habe, kommt plötzlich Love von Lana Del Rey, und der Raubvogel stößt vom Himmel, und ein Zug schießt unter der Brücke hervor, und ich lächle und verringere den Widerstand und trete schneller in die Pedale des Crosstrainers, zum Rhythmus von Lanas Stimme, it doesn’t matter because it’s enough, und ich will den Leuten um mich sagen, dass ich sie irgendwie ganz okay finde, alle, wie sie da mit gefletschten Zähnen vorm Spiegel Hanteln wuchten oder Crunches machen am Total Abdominal, wie sie auf Steppern steppen, am Rudergerät rudern oder auf Laufbändern laufen, mit streng zurückgekämmten Haaren und Tätowierungen und Kapuzen und riesigen Oberarmen und technisch anmutenden Linien auf perfekt sitzenden Stretchkleidungsstücken, und dann landet mein Blick auf einem der Bildschirme über der Fensterfront, wo normalerweise Snowboarder aus Helikoptern in kaukasische Pulverschneehänge fallen, oder Trainingstipps vorgestellt werden, Eiweißpräparate und Enthaarungstechnologien, doch heute läuft auf dem Flatscreen links über mir ein alter Hollywoodfilm, in dem mittelalterlich gekleidete Leute gegeneinander kämpfen, mit Lanzen, Schwertern und Äxten, und mitten im Getümmel steht ein Mann ohne Rüstung in einer Art Kutte, der mahnend ein Buch in die Höhe hält und dann brutal erschlagen wird, und das Buch liegt im Blut, und ich denke, oh, what a coincidence, und dann, wieso denke ich das auf Englisch, und dann, why not, und dann, Don DeLillo hat einmal gesagt: We’re all one beat away from becoming elevator music, und: “Unsere Literatur ist reich. Aber manchmal ist es eine Literatur, die sich zu leicht neutralisieren und dem Umgebungslärm einverleiben lässt. Deshalb brauchen wir die Schreibenden als Oppositionelle, die Romanautoren und -autorinnen, die gegen die Macht anschreiben, gegen den Konzern oder den Staat oder den ganzen Angleichungsapparat”, und eigentlich glaube ich jedes Wort dieses Menschen, aber dann fällt mir wieder ein, dass die Rolle der Opposition gegen Wirtschaft und Staat und Assimilationsapparat mittlerweile selbst so was von assimiliert worden ist, von Marken, Politikern und Agenturen, und es kommt mir manchmal so vor, dass neben den Schreibenden mittlerweile auch alle anderen Menschen diese Rolle eingenommen und ausgeweitet haben im Widerstand gegen Vernunft und Mäßigung, Umweltschutz und Verkehrsregeln, Steuern und andere individuelle Opfer zum Wohle der Allgemeinheit, gegen das Zuhören, das Nachdenken, das Miteinander-Reden. Und ich bin mir bewusst, dass die Sehnsucht nach Affirmation und Gemeinschaft keine originellen politischen Ideen hervorbringt oder radikale ästhetische Prinzipien. Aber der gegenwärtige Grad der Fragmentierung der Erfahrung bei gleichzeitiger Vereinnahmung aller neuen Ideen und Formen von Kritik am Markt in den Markt durch den Markt lässt in mir die Frage aufkommen, ob es nicht vielleicht doch etwas Altes geben müsste, das zu dem Ganzen zu sagen wäre, etwas, das die Atomisierung der Wirklichkeit in immer kleinere, immer individueller vermittel- und vermarktbare Splitter kritisiert, ohne sie durch Abgrenzung qua Negation gleichzeitig auch zu befeuern, irgendeine vergessene frohe Botschaft, und dann muss ich an den Jesus-Film von Zeffirelli denken, den wir früher immer an Weihnachten sahen, oder war es Ostern, und an den Satz Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, und ich finde es jetzt gerade einfacher, mir ein sich seit dem Urknall kontinuierlich ausdehnendes Universum vorzustellen als die genauen Mechanismen, die diesen Satz in der gar nicht so langen Zeit seit meiner Kindheit für mich mehr oder weniger unbrauchbar gemacht haben, obwohl ich, wenn ich versuche, mir vorzustellen, wie er gemeint gewesen sein könnte, mir nicht vorstellen kann, was gegen ihn spricht, und vielleicht ist der Satz selbst auch ein sich seit seinem ersten Äußern mit Lichtgeschwindigkeit ausbreitendes Universum, und jedes der Worte, die er enthält, Liebe zum Beispiel, und die vielen Milliarden Male, die sie gesagt wurden und geschrieben, von Kindern, Verkäufern und Verbrechern, sind die Stein gewordene Zeit, die sich Schicht um Schicht um die Bedeutungen legt, und ich frage mich, ob es, wenn es eine Aufgabe gibt für Schreibende, vielleicht die ist, Wörter wie Steine vom Boden aufzuheben und zu betrachten, zu versuchen, anhand von Form und Fundort zu ergründen, was einmal in ihnen enthalten war, oder immer noch ist, und so die immer gleichen alten Geschichten immer neu zusammenzusetzen und immer anders zu erzählen. Ich frage mich, ob es, wenn es eine Aufgabe gibt für Lesende, vielleicht die ist, niemals aufzuhören, zu versuchen, zu verstehen, was warum geschrieben wurde und für wen. Und ich frage mich, ob vielleicht das die einzige Religion ist, die ich brauche: der Glaube an ein allen zugängliches Zeichensystem zur Kodierung der Laute, die wir von uns geben in der Hoffnung, Gemeinschaft herzustellen; und die mit jedem gesprochenen oder geschriebenen Wort mitgemeinte Annahme, dass wir uns ähnlich sind: Maschinen, die ab und zu etwas bewegt werden wollen zur Vermeidung von Schmerz.



© Heinz Helle and Suhrkamp Verlag Berlin

Click here for Hannah Weber’s review of Alisa Ganieva’s Bride and Groom from our Winter 2018 issue.