Das Schloss Der Von Behr

Judith Schalansky

Photograph by Laura Blight

* Seit dem 14. Jahrhundert besaß die Gützkower Linie des alten Geschlechts der von Behr, die wegen der Gestalt ihres Wappens auch › die Schwanenhälsigen ‹ genannt wurde, große Teile des Ortes Busdorf in Pommern bei Greifswald.
1804 wurde der Ort mit Genehmigung der schwedisch-pommerschen Regierung zu Stralsund in › Behrenhoff ‹ umbenannt und der Gutsbetrieb von dem Rittmeister Johann Carl Ulrich von Behr in ein Fideicommiss zugunsten seines Enkels Carl Felix Georg umgewandelt und verfügt, dass bei dessen Vererbung stets die Primogenitur gelten solle.
Dieser ließ hinter dem alten Gutshaus ein neues, zweigeschossiges Herrenhaus im spätklassizistischen Stil nach Plänen des Schinkel-Schülers Friedrich Hitzig errichten, das im Jahre 1838 fertiggestellt wurde. Im Jahre 1896 wurde der Bau durch Carl Felix Woldemar, der im Jahr 1877 in den preußischen Grafenstand erhoben worden war, erweitert und die beiden eingeschossigen Veranden vergrößert und aufgestockt.
Von 1936 bis 1939 stellte Gräfin Mechthild von Behr, Witwe des letzten Grafen, Kaiserlichen Landrates und langjährigen Mitglieds des Reichstags, des 1933 verstorbenen Carl Friedrich Felix von Behr, das Herrenhaus der Bekennenden Kirche für Vorlesungsveranstaltungen zur Verfügung. Der Theologe Dietrich Bonhoeffer soll mehrmals zu Gast gewesen sein.
 † Am 8. Mai 1945 stand das Herrenhaus in Flammen. Das ausgebrannte Gemäuer wurde von den Anwohnern als Baumaterial für Neubauernhäuser weiterverwendet.
Der 9 Hektar große, zwischen 1840 und 1860 nach Plänen von Peter Joseph Lenné angelegte Landschaftspark steht heute unter Denkmalschutz.

Ich erinnere mich an das offene Fenster. Es ist Nacht, und die Luft ist kühl. Ein offenes Fenster in einer Sommernacht. Kein Mond am Himmel. Nur der diffuse Schein der Straßenlaterne. Es riecht nach Erde. Vielleicht hat es geregnet. Ich weiß es nicht mehr.

Es war der 31. Juli, sagt meine Mutter. Sie ist ganz sicher, da Tante Kerstin am 31. Juli Geburtstag hat, den sie auch am Abend jenes Tages feierte, in einem der alten Gutsarbeiterhäuser gegenüber. Es hat ganz sicher nicht geregnet, sagt sie noch. Es war ein schöner Tag. Den ganzen Tag lang Sonne. Juli eben.

Auch die Wetteraufzeichnungen berichten von einem heißen Tag, überhaupt von einem warmen und ausgesprochen trockenen Sommer.

Sommer 1984. Es ist meine erste Erinnerung, weiß ich, glaube ich, behaupte ich. Ich könnte Tante Kerstin anrufen. Sie lebt noch. Wie meine Mutter und meine beiden Väter. Der, der mich zeugte, und der, der mir später in jener Nacht die Beine mit Eis kühlen und sie mit Mullbinden umwickeln sollte.

Ich spiele auf dem Friedhof zwischen den überwucherten Hügeln. Ich verstecke mich hinter den Blöcken und Stelen, ich hocke mich zwischen Pflanzen mit winzigen weiß und blau leuchtenden Blüten. Eine alte, vom gebückten Gehen klein gewordene Frau wirft welke Blumen und trockene Kränze auf den Kompost. Sie hält eine Blechgießkanne unter den rostigen Wasserhahn und verschwindet hinter den Buchsbaumhecken.

Ich ducke mich, fahre mit den Fingern über den glatten Stein, fühle die rauen Vertiefungen der gemeißelten Buchstaben und warte auf das Unwahrscheinliche. Ich warte darauf, entdeckt zu werden. Ich wünsche es mir. Ich fürchte mich davor.
 
Meine gesamte Kindheit wohnten wir auf dem Dorf, in bäuerlich geprägten Ortschaften, die ihre glanzvollere Vergangenheit gut Behrenhoff verbargen. Auch damals wohnten wir in einem Dorf, nur ein paar Schritte entfernt von der einzigen Bushaltestelle des Ortes, im oberen Geschoss des alten Küsterhauses direkt neben der turmlosen Kirche mit dem hohen Feldsteinchor. Unser Hof grenzte unmittelbar an das Gräberfeld. Nicht mal ein Zaun trennte die beiden Komposthaufen. In meiner Erinnerung war ich fast immer allein. Allein auf dem Friedhof, allein in dem von hohen, roten Mauern umgebenen Obstgarten, allein auf dem Steinhaufen, von dem ich, wie meine Mutter meint, an jenem Tag immer wieder gesprungen sein soll.

Doch niemand kam, das Wunder blieb, wie immer, aus. Stattdessen pflückte ich ein paar Blumen von den kleinen Beeten, rupfte Stiefmütterchen aus dem Boden und zog einzelne Tulpen aus den spitzen, in der Erde steckenden Kunststoff-Vasen.

Ich ahnte etwas, aber ich wusste nichts. Jedenfalls nicht, dass die Blumen Abwesenden gehörten, Toten, die in gezimmerten Kästen unter der Erde verwesten. Als ich den Strauß nach Hause brachte, schimpfte meine Mutter und erklärte mir nichts.

Den Tod kannte ich noch nicht. Dass Menschen sterben, dass ich selbst eines Tages sterben würde, lag außerhalb meiner Vorstellungskraft. Als mein Cousin mich einige Zeit später in dieses Geheimnis einweihte, glaubte ich ihm nicht. Ich war sicher, er hatte, wie so oft, etwas aufgeschnappt und falsch verstanden. Er grinste. Er war sich seiner Sache sicher.

Mir wurde schwindelig, ich rannte durch die Neubauwohnung, in der wir jetzt wohnten, in die Küche und fragte meine Mutter, ob das wahr sei, ob die Menschen tatsächlich sterben, ob wir alle eines Tages sterben würden, also auch ich. Sie nickte, sagte ja und zog die Schultern hoch. Ich sah zum Abfalleimer, und aus irgendeinem Grund stellte ich mir vor, dass die Toten in diesem Kübel landeten, als geschrumpfte Wesen, die die Müllabfuhr abholen würde. Ich hielt mir die Ohren zu, obwohl niemand mehr sprach, und lief in den Hausflur. Gelbes Licht fiel durch das geriffelte Fensterglas auf die verstaubten Grünpflanzen im Treppenhaus.

Ich halte mir die Augen zu, in der Geisterbahn auf dem Rummel in einem Nachbardorf. Meine Eltern haben mich mitfahren lassen. Zwei ihrer Schüler sitzen links und rechts von mir, ein Junge und ein Mädchen.

Als wir ins Dunkel eintauchen, verschränke ich die Arme vor dem Gesicht. Ein kühler Luftzug streift meine Haut. Ein Klappern ist zu hören, das Rucken und Rollen des Wagens, ein Schrei. Ich spüre die Haut auf meinen Lidern, kneife die Augen noch fester zu, halte die Luft an für einen Moment, summe und warte. Eine Ewigkeit vergeht.

Irgendwann tippt mich jemand an. Die Stimme meiner Mutter sagt : Es ist vorbei. Ich öffne die Augen. Wir sind wieder im Freien. Ich habe mir die ganze Zeit die Augen zugehalten, sage ich stolz. Ich habe sie überlistet. Ich habe die Angst überlistet. Schade um das Geld, sagt meine Mutter und hebt mich aus dem Wagen.

Ich spiele im Garten zwischen den Apfelbäumen. Ich pflücke viele Butterblumen und färbe die Finger mit dem Saft des Löwenzahns. Vor dem Komposthaufen entdecke ich eine stachlige Kugel. Sie atmet. Sie lebt.

Als meine Mutter ein Schälchen mit Milch vor die Kugel stellt, verwandelt sie sich in ein wundersames Tier. Wir hocken uns hin. Schwarze Knopfaugen schauen mich an. Ich spüre die Hand meiner Mutter auf meinem Kopf. Eine spitze Nase sucht nach der Milch. Eine winzige, rosa Zunge blitzt hervor. Das Tier grunzt und schmatzt. Seine Stacheln wippen.

Ich freute mich meines Lebens. Ich erwartete nichts. Meine Mutter erwartete ein Kind. Aber ich erinnere mich an keinen gewölbten Bauch und an keine Männerhand, die seine Rundungen streichelt. Sie muss schwanger gewesen sein, sagen die Daten. Sie war schwanger, zeigen die Fotografien. Einen Monat nach jener Julinacht, die nicht kühl gewesen sein kann, sollte mein Bruder auf die Welt kommen und meine Großmutter, nachdem sie den Anruf aus dem Krankenhaus entgegengenommen hatte, im nachtblauen Morgenmantel in der Schlafzimmertür stehen und das erste Mal seinen Namen aussprechen.

Ich saß im großelterlichen Bett, hörte diesen Namen, der mir nichts bedeutete, und wandte mich wieder den Lippenstiften zu, einer erstaunlichen Sammlung kleiner, glänzender Zylinder, die meine Großmutter in einem Setzkasten über dem Bett verwahrte.

Im Schlafzimmer steht das Fenster offen, aber die Wohnungstür ist zu, fest verriegelt, und der Schlüssel hängt nicht am Schlüsselbrett und liegt auch nicht auf dem Küchentisch. Ich bin wach geworden und aus meinem Gitterbett geklettert. Ich habe die Schlafzimmertür geöffnet und die gesamte Wohnung durchsucht. Alle Räume sind dunkel, alle anderen Fenster geschlossen: das halbrunde Gaubenfenster im Wohnzimmer, die Dachluke in der Küche und das rabenschwarze Loch der fensterlosen Kammer, in der sich mein Vater eine kleine Werkstatt eingerichtet hat.

Mehr Zimmer gab es nicht. Das Bad lag eine Etage tiefer im Erdgeschoss. Wir teilten es mit Tante Viola aus der Dachwohnung. Wir teilten uns das Klo, den bollernden Badeofen, die vierfüßige Wanne und die Bastmatte davor. Tante Viola arbeitete in der Schulspeisung im alten Marstall am nördlichen Parkende, einem Haus aus gelben Ziegelsteinen mit steinernen Pferdeköpfen links und rechts über dem Eingangstor. Wo früher Pferde ihr Heu fraßen, aßen wir jetzt täglich zu Mittag. In langen Schlangen standen wir an, die Kinder des Kindergartens, die Schüler der Schule, die Lehrer, das halbe Dorf. Tante Viola hatte blondierte Haare, violett angemalte Augen und einen Lastwagenfahrer zum Ehemann, der sonnabends heimkam und sonntags wieder fuhr, eine große gesichtslose Gestalt. Die Schule lag hinter dem Park, zwei Neubauten mit langen Fensterreihen. Dort unterrichteten meine Eltern und auch Tante Kerstin. Der Park war groß und gehörte zum Schloss, das es nicht mehr gab. Weder Tante Kerstin noch Tante Viola waren echte Tanten. Sie hießen nur so.

Und das Schloss war kein echtes Schloss. Es war ein Herrenhaus, ein langgestreckter, zweigeschossiger Bau, Zentrum des Gutshofs, daneben ein Pferdestall, ein Schafstall, ein Kuhstall sowie ein Wirtschaftshaus und zwei Scheunen. Hinter dem Bärentor an der Dorfstraße führte eine Lindenallee direkt dorthin, durch den nördlichen Teil des Parks, dessen Betreten den Dorfbewohnern nicht erlaubt war. Dort, wo mein Kindergarten stand, muss die großzügige Auffahrt gewesen sein, ein begrüntes Rondell vor einem offenen Portal, das zugleich als Vorfahrt diente, darüber ein von acht Säulen getragener Balkon, über den Fenstern Dreiecksgiebel, die Fassade von wildem Wein bewachsen.

Das Fenster steht offen, die Wohnungstür ist abgesperrt und der Riegel vor dem Schloss. Mein Arm reckt sich, greift nach dem Türgriff, fasst ihn, zieht ihn herunter – doch die Tür bleibt verschlossen.

Ich erinnere mich an die große Anbauwand im Wohnzimmer, an die ruhenden Spielsachen in der Ofenecke, an den Schaukelstuhl wie plötzlich erstarrt, eine überdimensionierte, aufgeräumte Puppenstube. Nur das Fenster im Schlafzimmer ist offen und die Luft draußen kühl.

Die Kirche lag mitten im Ort, aber alle gingen vorbei. Niemand schaute über die Mauer aus rotem Backstein, niemand sah zu den Gräbern und Kreuzen. Nur ein paar alte, gebückte Frauen gingen durch das quietschende Tor auf den Friedhof. Wir wohnten direkt neben der Kirche. Aber sie bedeutete nichts. Nicht das riesige Gebäude aus gehauenem Granit und Feldsteinen, nicht das Pfarrhaus schräg gegenüber, nicht der hölzerne Glockenstuhl zu ebener Erde, nicht das Läuten am Sonntag, nicht die schiefen, rostigen Kreuze auf dem Kirchhof, nicht die verwitterte Gruft der Grafen hinter dem schmiedeeisernen Tor, die Kreuze im Farn, die steinernen Engel im Halbrelief über einer brüchigen Bank, auf der nie jemand saß, und die Tafel mit dem Spruch, den ich, auch als meine Mutter ihn mir einmal vorlas, nicht verstand: Die Liebe höret nimmer auf. Es waren Überbleibsel aus einer Vergangenheit, die ein für alle Mal überwunden schien.

Es war ein altes, adliges Geschlecht, das dem Dorf seinen Namen gab, Vasallen der Grafen zu Gützkow und der Herzöge Pommerns – tapfere, geliebte und treue Ritter, wie es in einem alten Lehensbrief heißt.

Es sind Worte aus einem Märchen. Sie stehen in eng beschriebenen Kolumnen, in denen sich die Äste der Stammbäume weit verzweigen. Die von Behrs, das waren Knappen und Truchsesse, Kammerherren und Grafen, Pröpste und Professoren, Land- und Stadträte, Kuratoren und Kommandeure, Hof- und Rittmeister, Kammer- und Hofjunker, Soldaten, Marschalle, Majore und Hauptmänner, Lieutenants – im polnischen Krieg, bei der Landmiliz, in der schwedischen Leibgarde, in dänischem oder französischem Dienst. Eine Konventualin und eine Priorin, eine Kapitänsfrau, sogar eine Dichterin, vor allem aber waren es die Besitzer dieses Ortes, ihr Lehen, ihr Hab und Gut, Saaten, Fahrnis und Vieh eingeschlossen. Ein Rittergut, das unbeerbt zurückfiel in die alte Stammeslinie, in der seit jeher die Erstgeborenen mehr zählten als die Nachgeborenen und Töchter so gut wie nichts. Sie hatten Güter, die sie veräußerten und tauschten, retinierten und akquirierten, derentwegen sie Zinsen eintrieben oder ihre Anteile verpfändeten. Manchmal unterschrieben sie Lehensbriefe, setzten ihr Siegel auf dickleibiges Papier, eine klebrige Masse, rot wie Ochsenblut: ein tanzender Bär zwischen zwei Schwänen.

Die Vorfahren meiner Mutter waren Landwirte, Vieh- und Holzhändler, Fuhrunternehmer und Fleischermeister, ein Förster, ein Weichensteller, ein Seemann. Die Vorfahren meines Vaters, des leiblichen, waren Müller und Schneidermeister, Stellmacher und Hauszimmergesellen, ein Musketier, einige Ärzte, eine Weißnäherin, ein Fischer, ein Eisenbahnschaffner, ein Chemiker, ein Architekt, ein Fabrikant, ein Rüstungsbauer, der nach dem Krieg Friedhofsgärtner wurde.

Wir wohnten nur ein Jahr in diesem Dorf, aber es ist das erste Jahr, an das ich mich erinnere. Es war nicht der Friedhof, sondern der Park, der an unseren Hof grenzte, sagt meine Mutter. Und es standen noch die Reste einer abgebrochenen Mauer, fügt sie hinzu.

Die einen sagten, das Schloss sei nach Kriegsende gesprengt worden, die anderen, es sei noch vor Kriegsende abgebrannt, mit all seinem Inventar: dem prachtvollen Kronleuchter in der Empfangshalle, dem bleiernen Glas der Türen zu den beiden Salons, den dunklen Möbeln, den Büchern, dem Tafelsilber und dem Porzellan, den goldenen Spiegeln, den alten Landkarten und der Ahnengalerie mit den mächtigen Bildern von ernst blickenden Herren auf großen Pferden.

Wir besitzen keine alten Dinge, keine Erbstücke. Nur das Haus, in dem wir wohnen, ist alt. Jede Nacht hört man im Dachstuhl den Marder. Meine Eltern warten auf eine Wohnung im Plattenbau hinterm Schwanenteich. Drei Zimmer, Zentralheizung und ein Bad mit fließendem, warmem Wasser. Sie stehen auf der Liste. Die Zeit ist knapp. Das Kind soll bald kommen.

Nicht selten waren die alten Häuser so marode, dass sie über Nacht in sich zusammenfielen, wie der Konsum im Herbst des Vorjahrs. Das Dach war einfach eingestürzt. Nur mit roher Gewalt ließ sich am Morgen noch die Tür öffnen. Ich erinnere mich an die versammelte Menschentraube davor, Verkäuferinnen und Kunden, Frauen in geblümten Kittelschürzen und mit schlaffen Einkaufsnetzen, Männer, die kamen und Dosen aus den Trümmern zerrten. Sie luden die staubigen Waren in Schubkarren und stapelten die Konserven, Mehltüten und Flaschen, die das Milchauto brachte, in einen dunklen, muffigen Raum im linken Vorbau unseres Hauses. Ein Notverkauf begann. Den ganzen Tag brannte das Licht. Bis hoch in unsere Wohnung hörte man das Klingeln der Kasse.

Ich trug ein ärmelloses Leibchen aus Batist mit einem Muster aus winzigen orangefarbenen Blümchen. Ein Gummizug hielt es auf der Hüfte. Ich erinnere mich an das offene Fenster, an die laue Luft, denn es war nicht kühl, konnte nicht kühl sein, nicht mal ein frischer Luftzug wehte herein, denn es war Juli, und Tante Kerstin hatte Geburtstag, und warum Tante Viola nicht gekommen war, um nach mir zu sehen, weiß ich nicht. Ich war dreieinhalb Jahre alt, fast vier. Vier gestreckte Finger, fast eine ganze Hand.

Ich erinnere mich an keine gestapelten Ziegel, an keinen Steinhaufen im Hof, auf den ich an jenem Tag immer höher geklettert und von dem ich immer wieder heruntergesprungen sein soll. Ich sehe nur das offene Fenster. Das Fensterbrett reicht mir bis zur Brust. Ich versuche mich hinaufzuziehen, doch es ist zu hoch. Ich gehe ein paar Schritte rückwärts, denke: Judith, du bist nicht dumm, und sage: Judith, du bist nicht dumm. Ich wiederhole diesen Satz immer wieder, erst leise, für mich, dann laut. Es ist ein Satz, der mich in die Küche führt. Ich packe den Küchenstuhl und schiebe ihn über die Fliesen. Das Quietschen ist laut. Ich schleppe ihn über die Schwelle, ich schleife und zerre ihn über den orangefarbenen Wohnzimmerteppich, über die Schwelle ins Schlafzimmer, am großen Elternbett vorbei bis zum Fenster, das offen steht. Ich denke an den Häwelmann aus dem Märchen, doch mein Nachthemd ist kein Segel, und mein Gitterbett hat keine Rollen. Es bleibt die ganze Nacht neben dem Ofen stehen. Ich sehe durch die Stäbe. Ich stehe an der Brüstung. Ich bin Häwelmann, doch der Mond, der mich mit der Stimme meiner Mutter fragt, ob ich noch nicht genug habe, ist hinter einer Wolke verschwunden. Ihre Umrisse leuchten. Niemand kann mich aufhalten. Ich klettere auf den Stuhl, die Hausschuhe an meinen Füßen. Sie sind aus dunkelblauem Cord. Ich steige auf das Fensterbrett und gehe in die Hocke. Die Schuhspitzen zeigen ins Freie. Ich warte nicht. Ich warte auf nichts. Kein Blick zur Laterne. Kein Blick ins Geäst der Apfelbäume. Nur hinunter. Das Pflaster. Die Böschung unter mir.

Meine Mutter kommt ohne Kind aus dem Krankenhaus, nimmt den Zug in das neue Dorf, das nicht nur eine Bushaltestelle, sondern auch einen Bahnhof hat. Sie geht vorbei an der Kirche, auf der Störche ihre Jungen füttern, vorbei am Konsum, einem Neubau mit Fahrradständern auf dem betonierten Vorplatz. Doch die Kittelschürzen stehen schon da. Sie schauen in ihre Richtung und tuscheln: Eine Lehrerin aus Behrenhoff, die jetzt im Neubau wohnt. Sie winken sie zu sich und fragen, ob das Kind tot geboren wurde. Sie fragen es auf Hochdeutsch und auf Platt: Is hei doot geburen?

Eine alte Frau findet mich. Sie stützt sich auf ihren Gehstock, beugt sich über mich und fragt: Wat mokst do denn for Dummtüchs, Kind?

Meine Mutter kommt ohne Kind nach Hause. Sie kommt nicht mal nach Hause, denn während ich eine Woche bei meinen Großeltern bin, beziehen meine Eltern eine Neubauwohnung in einem Nachbardorf, sieben Kilometer entfernt, unendlich weit weg. Kilometer, das ist die größte Einheit, unvorstellbar wie Jahre. Ich bin dreieinhalb Jahre alt, fast vier, aber auch das weiß ich nur, weil mein Bruder kurz vor meinem vierten Geburtstag das Licht der Welt erblickt—oder vielmehr das der Leuchtstoffröhren in der Greifswalder Frauenklinik – und schon bald darauf das Schwarzlicht gegen seine gelbe Haut. Die Wohnung hat ein Bad, doch keine Zentralheizung. Im Keller sind noch Kohlen von den Vormietern. Die reichen noch. 

Wie eine Schlange hatte sich die Nabelschnur um den Hals des Kindes gelegt und den Eintritt in diese Welt erst verzögert, dann erschwert und letztlich so geföhrdet, dass die Lebendgeburt des Säuglings, der schon blau angelaufene Hände und Lippen hatte, an ein Wunder grenzte.

Ich erinnere mich an einen Alptraum, in dem ich unter Wasser bin, immer tiefer falle, über mir eine Schicht aus Eis. Ich erinnere mich an einen Trickfilm im Fernsehen, in dem eine Frau in ein leeres Schwimmbecken springt und wie eine Puppe in ihre einzelnen Glieder zerfällt. Bis heute löst dieses Bild einen namenlosen Schrecken in mir aus.

Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, tot zu sein. Ich frage die Erzieherin in meinem neuen Kindergarten, eine hochgewachsene Frau mit vielen Locken.

Sie schüttelt den Kopf. Das weiß ich nicht, sagt sie. Ich war noch nicht tot.

Ich will wissen, was mit den Toten in der Erde passiert. Sie verrotten. Ich verstehe das Wort nicht.

Wie ein schrumpeliger Apfel, den irgendwann Würmer und Maden befallen und auffressen, erklärt sie.

Ich muss an den Mülleimer in unserer Küche denken, da sagt sie noch: Davon merkst du ja nichts mehr. Du bist ja tot.

Das Böse ist die Haut auf der erhitzten Milch, die dünne Eisschicht auf dem zugefrorenen Dorfteich, das Dutzend schwarz glänzender Nacktschnecken im Hof. Der Tod ist eine Alte in geblümter Kittelschürze. Schicksalsgöttinnen tragen Kopftuch, gehen am Stock und sprechen Plattdeutsch. Sie fragen nach totgeborenen Kindern, nach Dummtüchs und harken die Gräber ihrer zu früh verstorbenen Männer.

Die von Behrs waren einst tapfere, geliebte und treue Ritter. Ihr Schloss ist abgebrannt, sagen die einen. Es ist gesprengt worden, sagen die anderen. Die Dorfbewohner haben es selbst geplündert und in Brand gesteckt, als die Russen kamen und die alte Gräfin geflohen war, sagt eine alte Frau, die es wissen muss. Sie nahmen mit, was mitzunehmen war: den prachtvollen Kronleuchter in der Empfangshalle, das bleierne Glas der Türen zu den beiden Salons, die dunklen Möbel, die Bücher, das Tafelsilber und das Porzellan, die goldenen Spiegel, die alten Landkarten und die Ahnengalerie mit den mächtigen Bildern von ernst blickenden Herren auf großen Pferden, das silberne Zigarettenetui mit dem gräflichen Wappen: ein aufrecht stehender schwarzer Bär auf einem grauen Schild, die vorderen Pranken erhoben wie zum Gruß, auf dem Helm seines Schildes zwei voneinander abgewandte Schwäne, die Hälse gebogen.

Ich lande in einem Brennnesselstrauch. Die Hausschuhe noch an den Füßen, in den Beinen ein ziehender Schmerz. Ein taubes Gefühl. Das Brennen der Nesseln. Im Schein der Straßenlaterne die Silhouette einer alten, gebückten Frau. Der Asphalt glänzt. Es hat geregnet.

Vor kurzem las ich, dass Brennnesseln überall wachsen, wo Menschen siedeln, an Mauern und auf Schutt. Wie die meisten stachligen und dornigen Pflanzen gelten sie seit alters her als antidämonisch. Plinius schreibt, dass die Wurzel der Brennnessel das dreitägige Fieber heile, wenn man beim Ausgraben den Namen des Kranken nenne und hinzufüge, wessen Kind der Kranke sei.

Ich wusste nicht, wessen Kind ich war.

Da ist das grelle Schlafzimmerlicht, der Schrank mit dem Muster einer hölzernen Maserung unter der glatt lackierten Oberfläche. Ich liege auf dem Rücken und strecke die Beine wie ein Käfer in die Höhe. Da sind meine Eltern, überlebensgroß. Sie schauen mich nicht an, nur auf meine Beine, die sie mit Mullbinden umwickeln. Die Beine schmerzen, die Füße sind taub. Ihre Gesichter sind helle Flecken mit Frisuren.

Gebrochen war nichts. Die Röntgenbilder bewiesen es zweifelsfrei. Von einem Wunder sprach niemand. Meine Mutter nicht und auch der Arzt in der Kreisstadt nicht. Die Schwester wickelte das verstauchte Fußgelenk in einen Verband aus Zinkleim. In meinem Impfausweis, in den sie den Stempel drückte, klebten auf der ersten Seite drei Streifen Pflaster. Darauf stand in Blockbuchstaben mein Name und die neue Adresse in dem Dorf an der Bahnstrecke, in der Handschrift meiner Mutter, einer gut lesbaren Lehrerinnenschrift.

Gebrochen war nichts, aber viele Wochen konnte ich nicht richtig laufen. Ich hüpfte und humpelte, ich streckte die Arme aus. Meine Mutter nahm mich hoch. Ich umklammerte mit gespreizten Beinen ihre Hüfte, dahinter im Bauch das ungeborene Kind.

Später sprachen meine Eltern oft davon, welche Scherereien ihnen mein Sprung gemacht hatte. Aber nicht von dem Glück oder dem Wunder, denn Wunder gab es nicht in jener Zeit, in jenem Land.

Ich kannte keinen Gott und keine Engel. Als ich zum ersten Mal einen sah, auf dem bunten Gemälde hinter Glas über dem erstaunlich kurzen Bett einer alten Frau, ging ich schon zur Schule. Das Bild war ein Relikt aus einer Vorzeit, dunkel wie alle Räume der Gutsarbeiterhäuser mit ihren Giebeln und Sockeln aus Feldstein und fern wie eine Welt, in der Kinder von einem langhaarigen Mann mit Storchenflügeln in mondheller Nacht über hölzerne Hängebrücken geleitet wurden, in bunten Gewändern, mit polierten Wangen, blonden Locken und glänzenden Augen.

Beim Abendbrot sah ich meine Mutter lange an. Sollte sie tatsächlich meine Mutter sein? War es nicht möglich, dass sie nur behauptete, mich geboren zu haben, unter tagelangen Schmerzen, wie sie immer wieder betonte? War es nicht genauso gut möglich, dass sie mich einfach irgendwo gefunden und mitgenommen hatte oder mich gar meiner eigentlichen, richtigen Mutter weggenommen hatte, die irgendwo auf mich wartete, untröstlich wie in dem Lied vom Hänschen klein?

Ich beobachtete, wie sie mir ein Brot schmierte, wie sie es in kleine Stücke schnitt und auf mein Brettchen legte. Ich betrachtete ihre braunen Augen, ihren Mund, der irgendetwas verbarg. Ich lief ins Bad und stellte mich zwischen die beiden Spiegel, blickte in das sich ins Unendliche vervielfältigende Bild und suchte nach Ähnlichkeiten.

Da war ein Rätsel, aber ich verstand nicht einmal die Frage oder die Aufgabenstellung. Die Frage war ein offenes Fenster. Die Antwort war ein offenes Fenster. Ein Sprung aus vier Meter Höhe.

Jahre später liege ich bei meinen Großeltern krank im Bett. Es sind Ferien. Das Gästezimmer ist unbeheizt. Ich habe Fieber und Schmerzen. Sie holen den Arzt. Einen großen Mann, der mir seine blasse Hand an den Hals legt und mich mustert, mit langem, festem Blick. Er hat eine weiche Stimme. Seine Augen liegen so tief, als hätte sie jemand zurück in die Höhlen geschoben, aus denen sie nun umso dringlicher herausschauen, seltsam vergrößert durch das Brillenglas. Es ist ein Blick, der mir etwas sagen will. Die Hand zieht ein Foto aus dem Portemonnaie. Es zeigt ein Kind mit strammen, weißbestrumpften Waden, in der Hand einen riesigen Regenschirm. Ich nicke und weiß nichts. Da ist ein Rätsel, aber ich verstehe nicht einmal die Frage, die Aufgabenstellung. Das Kind auf dem Foto bin ich. Der Arzt ist mein Vater, und er ist es nicht.

Mehr als dreißig Jahre später, an einem kalten Frühlingstag, halte ich einen Zollstock an die Fassade des renovierten Küsterhauses und wundere mich, dass es vier Meter sind, auf den Zentimeter genau. Das Fenster im oberen Stock ist jetzt breiter. Das alte Pfarrhaus schräg gegenüber steht zum Verkauf. Von seiner Veranda hat man einen freien Blick aufs Feld, eine ebene Landschaft, Wiesen, Äcker mit sandig lehmiger Krume. Ein Mann kommt und weist durch die milchigen Scheiben. Er sagt Salpeter. Es klingt wie ein Todesurteil. Jetzt erst entdecke ich auf den Wänden einen weißen, verkrusteten Schaum. Es sieht aus wie eine ansteckende Krankheit.

Zum ersten Mal gehe ich in die Kirche. An der Nordwand des Chores ist ein Höllenrachen gemalt. Frösche, Schlangen und Menschen stürzen hinein, verdammte Seelen, die von den Flammen verschlungen werden. Und davor thront ein schweinsgesichtiger Höllenfürst mit Zepter und Blitz.

Ist der Sprung aus dem Fenster meine erste Erinnerung? Ich frage meine Mutter nach dem Igel. Der Igel tauchte im Jahr zuvor auf, irgendwann im Herbst, sagt meine Mutter. An den Igel aber erinnere ich mich, was nur bedeuten kann, dass nicht jener Julinacht, sondern dem wundersamen Tier meine erste Erinnerung gilt.

Die steinernen Bären thronen noch immer auf ihren verputzten Pfeilern am Eingang zum Park, in ihren Pranken die verwitterten Schilde, das Wappen der letzten Grafen. Eine Lindenallee führt in den Park. Das Kopfsteinpflaster ist fast in der Erde versunken. Eine Landschaft mit vielen Rhododendren, Esskastanien und Magnolien, zwei Blutbuchen, sogar einer Roteiche und einem Tulpenbaum. Über den Boden zieht sich ein geweißter Teppich aus blühenden Märzenbechern, Schneeglöckchen und Anemonen.

Am Rand des Sportplatzes entdecke ich die bemoosten Steine einer hüfthohen Mauer. Das müssen die Reste des Schlosses sein. Das müssen die Reste des Gutshauses sein, das erst zum Schloss wurde, als von ihm nur noch das Kellergewölbe stand. Im südlichen Teil des Parks treibt ein Schwanenpaar auf dem Teich vor zwei künstlich angelegten Inseln, wie gemalt.




“The Von Behr Palace” is taken from An Inventory of Losses by Judith Schalansky and published by MacLehose Press in the UK and by New Directions in the USA. Reprinted by permission.