aus Schwitters

Ulrike Draesner

1 Schaf(f)en

Der Nebel streckte seine gespinstigen Finger und kroch wenige Zentimeter über die Wiese voran, die er mit jedem seiner Atem­ züge sowohlsichtbarer zu machen als auch zu verstecken schien. »Gespinstig« war vermutlich nicht das richtige Wort, er richtete seinen Verdacht gegen sich selbst, vermutlich war nicht einmal »vermutlich« richtig, er traute sich in keiner Sprache mehr über den Weg. Gespinstig war wahrscheinlich eine Folge, ein Schluss, erzeugt von einem koboldhaften Gespenst, das Wörter herumwür­felte in seinem Kopf. Die Mischung der englischen und deutschen Laute stieß ihm zu, und er mochte sie, mochte die »formidable Fingerhaftigkeit« des englischen Nebels, dieses Hundes (dog) auf »f« (fog), wie er hechelte über der englischen Wiese und gleichzeitig festhing, kriechen&kleben, schweben&schleichen, die Gestalt stets neu verzerrt. Nicht ganz wie ein Lebewesen, nur fast, nicht ganz verrückt, nur fast, und fraglos jenseits dessen, was Kurt, genannt Körrt, fasste oder begriff. Der Nebel verwandelte die Schafe in schafförmige Vorsprünge, ihre Gliedmaßen und sogar einige der schmutzigweißen Löckchen standen einzeln hervor, während die halbdurchsichtige Feuchtigkeit die Tiere als solche nicht einmal berührte, sondern sich um ihre Körper wölbte und Schafsumriss um Schafsumriss in die haarsträubend knisternde Luft dieses frü­hen Oktobermorgens stellte.

Und da saß er, der Umriss eines Mannes, und beobachtete sich dabei, wie er Nebel mochte. Sich in Nebel verliebte.

Er, der ein gespinstiges Leben führte, der sich nach dem Ende des Krieges hier nach Ambleside geflüchtet hatte. Seit einem guten Jahr waren sie nun da. Endstation Lake District. Lake Destruction schien ihm etwas zuzuflüstern, hechelnd hing es über ihm, er ließ nicht zu, dass es ihn gefangennahm. Auch wenn es heruntersprach auf die hohle Form seines Körpers, seinen Umriss, gebogen und grau, klobig und groß, Kurt in seinem Schober, irgendeinem Scho­ber, schäfchenstill.

Die Lokalzeitung hatte eine kurze Meldung über seine Ankunft gebracht: German writer and artist A. Schweitter, exiled from Oslo. Sie hatten sich Mühe gegeben und sogar ein Foto mitabgedruckt. Es war so verzerrt, dass er sich zunächst nicht erkannt hatte. Sekundenlang hatte er an einen anderen Künstler geglaubt, hier, dann sich gefreut, weil er meinte, das Bild zeige den Bauern, dem die Schafe gehörten, einen Nachbarn. In der weiten Kargheit der Berge kamen Menschen so selten vor, dass jeder jedes Nachbar war.

Eine Weile hatte er das Foto aufs Genaueste betrachtet, ohne sich daran erinnern zu können, wo es aufgenommen worden war.

Scrutinize nannte man solches Schauen, es klang wie screw-tin­ eyes. Zinnaugen schraubten sich in etwas und untersuchten es, bohrten nach. Er fühlte, wie es ihn veränderte, sogar körperlich, dass er auf Englisch dachte statt auf Deutsch, seinem eingeborenen, verlorenen, sich windenden, schwindelnden Deutsch.

Er genoss dieses Gefühl. Er, der Umriss von Kurt aus Hannover-Hinüber. Starrte er mit deutschem Blick auf Revonnah (wann hatte er angefangen, Namen rückwärts zu sagen?), starrte ihm ein »renn« daraus zurück, »renn-von-nah«, und der englische Kurt zerriss den Namen endgültig in ein laut gesagtes »Ha?«, »no!«, »over«.

Hallo Nachbar! Nun saß er hier, er wunderte sich selbst noch, auf einer englischen Weide. Und keine Spur von Zerstörung, nur Schafe und ihre Hohlformen. Ihm war gleichgültig, dass sein Ge­sicht morgens in dem schmalen Spiegel über dem Küchenbecken einer Portion Haferschleim glich. Zum ersten Mal seit zehn Jahren hatte er einen Ort, London, verlassen, weil er wollte, und als Ziel einen Ort gewählt, den er ebenfalls wollte. Zum ersten Mal seit zehn Jahren war er umgezogen, statt zu fliehen. Diesmal hatte er die Frau, mit der er zusammenlebte, mitnehmen können. Amble­ war das Dorf seiner Wahl. Ein Nest von einem Ort zwischen Gipfeln mit Namen wie Loughrigg Tarn, Old Man of Coniston, mit den Fells Heran Pike und Crinkle Crags, dessen langgestrecker Höhengrat aus fünf Erhebungen und den tiefen Faltungen zwischen ihnen bestand. Das Wort »fell« hatte er hier erst gelernt. Es bedeutete Hügel oder Fels über der Baumgrenze, gletschergeformt, karg, zerschrammt. Die Schafe des Districts fraßen noch das här­teste Gras, Butler Fog kredenzte seiner Lady Meadow, Bestbottom of Autumn, jede Stunde frischen Herbstsuppendampf.

Er erholte sich hier. Ein alter Mann, der nach Luft schnappte, wenn er zehn Minuten einen der Hügel hinaufstapfte in der einzigartiger Nichttrockenheit von Lake Destruction.

Erregt von der lebendigen Vielfalt ihrer Grautöne.

Windhundgrau, granitgrau, himmelsgrau, schiefergrau, nacktschneckensilberschleimgrau, flintflimmergrau, zwielichtgrau, morgendärnmerungsgrau, nordgrau, schafzungengrau.

Er hatte auf das Zeitungsbild gestarrt, angezogen, ja angetan davon, wie wahrhaftig ihm ausgerechnet seine Verzerrungen erschienen. Schweitters, der sich danach sehnte, ein Schaf zu werden, der weise englische Nebel verstecken&zeigen würde, indem Jedes Ding in Gestalt und Riss verdoppelte. Wäre er als Schaf schwarz? A. Schweitters. Könnte mich genauso Ash nennen oder Asche oder Wash, fröhlicher Laune sein und den Leuten ein wenig angenehmer haferschleimig aus dem Mund spazieren.
                                                                                                                              
Um seine Nachbarn an sich zu binden. Es war vertrackt. Ein track war ein Gleis. Wenn man jemanden »trackte«, verfolgte man ihn. Halt, das war das Norwegengefühl: Pass auf, sie kommen und werfen dich raus. Da war ihm England gleich noch einmal solieb: Meldepflicht? Man pfiff darauf.

Er hatte sich an London gewöhnt gehabt, sich ein weiteres Mal losgerissen. Wantee riss er mit. Niemand sagte ihm, dass er in Ambleside etwas zu suchen hätte. London konnten sie sich nicht mehr leisten, wenngleich das nicht den Ausschlag gegeben hatte. Ihn trieb seine Kunst. Take your life into your hand. Nein, sagte Wantee, it’s take charge of your life. Hier lud man sein Leben auf wie eine Batterie oder verstand es als Fracht. Im Deutschen wollte es ein Tier sein, Puls auf Puls, gehalten in der Hand. Er spürte, wie es da kauerte. Es zitterte.

Ein Morgen auf einer Wiese in gnädigem Nebel. Mitunter schwankte der Boden. Das galt als natürlich. Eine englische Wiese war mehr Wasser als Grund, Wiese in einem Aggregatzustand, der sich bloß in Graden von Meerwasser unterschied.

Der Krieg hatte ausgekriegt. Sein Land lag in Schutt und Asche. Die halbe Welt lag in Schutt und Asche auf Rechnung seines Landes­. So schritt, so lief, so eilte die Geschichte. Sie eilte ihm hinter­her. Tief gruben die Bäche ihre Muster in die Wiesen, das Wasser rannte zum Meer. Nichts zerstört hier in den Lakes, gleichwohl nichts vom Krieg unberührt. Man sah es auf den zweiten Blick. In vielen Häusern fehlte der Mann. Doktor Johnston war aus dem Ruhestand in seine alte Praxis zurückgekehrt. Auf dem Weg zum nächsten Dorf Richtung Westen erstreckte sich ein bemerkens­ wertes Stück Land, über dessen Boden Streifen von Pulverstaub zogen. Die Munitionsfabrik, die dort gestanden hatte, war abge­rissen. Nie wieder wollte er einen Fuß nach Deutschland setzen. Er hatte überlebt, aber die Menschen, die ihn umgaben, sprachen eine fremde Sprache und kannten nichts aus seiner Vergangenheit. Selbst den Vertrautesten blieb, was er gewesen war, unsichtbar, ja unvorstellbar. Das stand ihm nun, nach über sechs Jahren im Ver­einigten Königreich und fünf Jahren Zusammenleben mit Wantee überdeutlich vor Augen. Die Wurzeln waren gekappt, das Ver­mögen verloren, er war ein mittelloser Schlucker bei miserabler Gesundheit. Frühzeitig krochen sie abends nach einer Tasse Tee ins Bett, Heizung - was für eine Idee, Brot - welch Traum. Auf die Dörfler wirkte er wie ein Penner. Die Kinder zeigten mit dem Finger auf ihn, der Wind der Fells zerrte an der Lunge, zerriss die Luft. Er ging auf die 60 zu. Manchmal tat ihm der Wind wohl, dann wieder kam er nicht gegen die Böen an. Seine Arterien waren 95, die linke Hüfte 82, er hatte Schmerzen, er hatte Erinnerungen, er wollte vergessen, was »haben« hieß, da»hatte es ihn«. Hitler war tot, der ununterbrochene Nachtschlaf zerstört, das Träumen von Mehltau belegt.

Im Mai 1945 hatten die Engländer gesungen. Ihr Wort für Sieg, victory, reimte auf Geschichte, history. Leider ebenso auf misery, Elend. Der deutsche Führer und sein russischer Widerpart hatten die Welt so bösartig in Brand gesteckt, dass die Feuer auch nun, einein halb Jahre nach dem Fall Berlins, nach den Bomben auf Hiroshima und Nagasaki, weiterloderten. Der Krieg mochte zu Ende sein. Wann hörte er auf? Wollte Kurt die Feuer sehen, musste er nur in der Dämmerung auf den schmalen Gehweg vor der Haustür treten, da züngelten sie, nicht hoch, einem Kartoffelfeuer zuhause, in Hannover, gleich. Back home. Einst-Daheim.

Passanten schritten durch den Brand, ohne dass die Hitze ihnen etwas antat, sie sahen ihn auch nicht. Seine Augen hingegen folg­ten Abend um Abend dem Lecken der Flammen und den Silhouet­ten der in ihnen zuckenden Figuren, die ihm, Kurt von Rückhause, trocken und gespensterhaft bis hierher nachgeeilt sein wollten.

An guten Tagen sang das Rinnsal vor der Tür eine andere Melo­die, das Gras der Wiesen wucherte fett und grün. Krieg in Kunst verwandeln, Stroh zu Gold, und es gelänge ihm doch. Die Land­schaft war herrlich, so zerklüftet und frisch, Tiere rundum, es roch nach Torf und Meer, der Menschenschlag freundlich, man ließ sich von Körrt porträtieren, entlohnte ihn und servierte Bitter, sein Lieblingsbier. Unbeschadet hatte er den Bombenblitz über­standen. Sein Sohn lebte in Sicherheit in Norwegen, seine Hände hämmerten, kneteten, schnitten oder schrieben ohne wehzutun, er konnte gehen und sich bücken, hatte einen Arzt, der furchtbare Geschichten erzählte, zum Ausgleich mittelmäßig Schach spielte, und dass die Feuer loderten, half ihm, Kraft zu sammeln für sei­nen Kampf.

Und an schlechten? Nein, die ließ er aus. Die erlebte man, das reichte. Der Wind pfiff. Schafsköpfe ragten aus dem Nebel wiege­ trennt vom Rumpf. Prächtige Wollbälle, zwei oder drei Beine fest gegen den Erdboden gestemmt, verwurzelt im Grund. Hie und da erschien ein einzelnes Schafsauge, blinzelnd gegen die Sonne ge­stellt.

Drei Jahre sollten reichen. Er bat um drei Jahre.

Als er den Blick hob, hatten die Schafe sich weitergeschoben. Wandelnde Köpfe über dem Nebel, kein Rückgrat, kein Bauch, keinerlei Bein. Wandelnde schafige Gestalten, die Felle verkrum­pelt, gelockt wie in einer Schüssel getrockneten Haferbreis. Schaf eins auf Position drei, Schaf zwei in der Ecke des Spielfeldes. Schaf drei und vier sannen Seite an Seite über die Vorzüge abso­luter Ortstreue nach. Nebel und Kälte und Wind spielten ein Lied: K. Schweitters, K. Weiter-Schwitzer. Seine Schuhe, man hatte sie ihm in einer Londoner Kleiderkammer geschenkt, waren hart wie seine Knochen.

Zwei Jahre, wenn er konzentriert arbeitete. All seine Kräfte aufbot. Aufbrachte. Nein, aufmachte. Oje, sein Deutsch. Da er keine der MERZbauten retten konnte, wollte er anfangen mit einem neuen Bau.

Die Alliierten hatten den Sieg erklärt, der Sieg war in Siege zer­fallen. Diese Siege trugen gegensätzliche Bedeutungen. Hitler hatte den Weltkrieg verloren.

Den Familienzerschlagungskrieg, den Beschädigungskrieg, den Menschenverderbungskrieg, den Vernichtungskrieg hatte er gewonnen. Stalin hatte obendrein den Weltkrieg gewonnen. Der ge­samte Kontinent roch nach Blut. Viel zu viele jener, die überlebt hatten, lebten wie tot. Das Gewinnen hörte für manche gar nicht mehr auf.

Folgerichtig schrieb Käthe Steinitz aus den USA von einem neuen Krieg. Sie war nach dem Tod ihres Mannes nach Los An­geles gezogen, schickte Kaffee, Shampoos und Erdnussbutter, eingewickelt in Zeitungspapier mit Comicstrips. Kurt schnitt Super­man aus, Popeye, Mickey Mouse, Bugs Bunny, kombinierte, klebte, das waren Miniaturen, das entwickelte sich, das kopierte sich, da­von wollte er mehr. Im Übrigen teilte die einstige Freundin mit, wie man sie schurigelte, die Ex-Deutsche, die Wieder-Deutsche, »die Kommunistin« oder »kommunistisch Miteingereiste«. They call it a cold war. Ihre Briefe wurden zensiert.

Er hingegen, Kurt, saß in der friedlichen englischen Morgensonne auf einem friedlichen Stein. Guten Tag! Ein einziges Rädchen in der Lakelands-Maschine lief nicht rund. Fehleranfällig und weich, eine unberechenbare Masse aus Venen, Bronchien, Blut—Kurt. Doch sie sollten ihn nicht kleingekriegt haben.

Your last shot.

Er ahnte, was das hieß, und schreckte davor zurück. Keiner sah, welche Anstrengung jede künstlerische Arbeit bedeutete. Was sollte auch zu sehen sein: Ein stattlicher Mann über einen Klumpen Gips gebeugt, dem zwei Hände, bisweilen unter Zuhilfenahme eines Spachtels, meist mit den bloßen Fingern, bald also ihrerseits über und über mit weißem Sulfat bedeckt, das Wesen eines Huhns beizubringen suchten.

In seiner Kindheit war sein Vater regelmäßig verreist. Die Abschiede hatte er als schrecklich empfunden bis auf die paar Se­kunden, nachdem Eduard Schwitters durch die Absperrung auf den Perron getreten war. Die beiden Holzflügel, die wie Stalltüren 

Zentimeter über dem Boden endeten, schwangen nach dem Durchgang einer Person eine Weile frei vor und zurück. Im oberen Drittel trugen sie Fenster, so dass jene, die zuhause blieben, die Köpfe der Menschen, die sie liebten, weggehen sehen konnten. Als Kind blickte man gegen Holz oder in den Himmel; war man Kind Kurt, kniete man vor dem Schlitz auf dem Boden und linste hindurch. Er liebte es bis heute, das Ballett der Türschatten über den Fugen. Jedes Mal, wenn er seine Hand durch die Schatten gestreckt hatte, war ihm die Hand des Vaters von der anderen Seite entgegengekommen und hatte seine Finger umschlossen. Es mochte seltsam scheinen, dass ihm dies nun einfiel.

Erinnerungen folgten eigenen Gesetzen, er hatte gelernt, sich ihnen anzupassen. Oft genug zog man nur hervor, was angenehm war. Vieles drückte das Gedächtnis dauerhaft weg. Alle Erinnerung verwirrte die Zeit. Es war dies vielleicht einer ihrer besten, zumindest kühnsten Aspekte: Sie, die tat, als hütete sie die Folge der Stunden, verquirlte deren innerste Ordnung. Diesmal war nicht schwer zu erraten, warum ihm der Perron eingefallen war. Er war darauf angewiesen, dass sich ihm eine Hand, über die er nicht bestimmen konnte, aus einem Bereich entgegenstreckte, den er nicht erkennen konnte. Zuerst musste er sich mit sich selbst verbinden, mit all seinen früheren und zukünftigen Selbst, um einen Stein zu bearbeiten, Gips zu formen, ein Stück Draht zu biegen. War dies gelungen, brauchte er ein weiteres Mal Glück. Nichts half, als auf die Hand von der anderen Seite zu warten, dieser ewig anderen Seite. Dass sie ihn traf, umfasste, ihn führte und ihn erhielt über den huschenden Schatten all dessen, was er je verstanden hatte, je gewesen war.

Er bat um drei Jahre. Drei Jahre für einen Bau. Kurt, nun Körrt.

Körrt, kurzum: ein paar Kringel Schaffell, ein paar Löffel Nebeldunst.



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Click here for Ulrike Draesner’s poems from subsong, translated by Bernadette Geyer, from the Winter 2015 issue.