An die Freunde in Fremdland

Stefan Zweig

Illustration by Florinda Pamungkas

Lebt wohl, ihr Lieben, ihr Gefährten vieler brüderlicher Stunden in Frankreich, Belgien und England drüben, wir müssen Abschied nehmen für lange Tage. Kein Wort, kein Brief, kein Gruß, den ich euch jetzt hinübersendete in eure nun feindlichen Städte, käme in eure Hand, und selbst wenn er euch fände, keiner erreichte euer Herz. Mit einem Male sind wir, die wir lang verbunden waren in Freundschaft und gemeinsamer Neigung von einander durch Gewalt gelöst, aber ich beklage es nicht. Den zum erstenmal würden wir jetzt—tauschten wir auch nur in geschriebenem Worte Rede und Gegenrede—uns nicht mehr verstehen. Wir sind die gleichen nicht mehr wie vor diesem Krieg, und zwischen unserm Gefühl steht das Geschick unserer Heimat. Ihr seid mir fern in diesen Tagen, seid mir fremd, und keine Sprache, nicht die unsere, nicht die eure vermöchte, daß wir uns nahe würden und vertraut. Lebt wohl, ihr Lieben, lebt wohl ihr Gefährten!

Bin ich darum undankbar, weil mein Gefühl euch verleugnet in diesen Stunden? Nein, glaubt es nicht, ich habe nichts vergessen, keinen der Abende, wo wir uns ins Auge blickten über den gastlichen Tisch, wo wir Arm in Arm durch träumende Gassen schritten—die vielleicht jetzt knattern von den Salven der Gewehre und niederprasseln im Feuersturz—, ich weiß, daß ich Heim hatte in eurem Haus und Bruderrecht in eurem Herzen. Wie schön waren sie, diese Abende, wenn wir uns einer dem anderen die Namen unsere Dichter lehrten, manchmal ein Buch aufschlugen und uns Verse lasen, wie schön war es gemeinsam heimatliche Werke erläutern und erklären zu dürfen, oh, wie spürten wir damals, daß Fremdheit der Art durch Liebe und Vertrauen unendliche Befruchtung des Geistes werden kann und ein Gefühl gesteigerter Lebensfülle! Daß deutsch meine Sprache war, und französisch die eure, war nur ein schöpferischer Reiz unserer Gemeinschaft, in stetem Vergleichen wurden wir stolz eigene Werte zu empfinden und die Fremden zu bewundern. Fiel eine Zeitung, ein Buch uns in die Hände, daß hetzte und die Nationen entzweien wollte so spotteten wir darüber: unsere Gemeinsamkeit, so meinte ich, so dachtet ihr damals zu fühlen, sei stärker als alle Entzweiung, und daß, was uns verbinde—so dachten wir damals—sei selbst stärker als das Land der Geburt, die Fessel der Sprache. An diesem Vertrauen wurden unsere Studen schön und der Begriff der Heimat gelöst von den Grenzen der Reiche: unsere Brüderlichkeit war stark über die Sprachen und rein jenseits aller Anfechtung.

Das ist nun vorbei, ihr Lieben, vorbei, solange Brüder meiner Sprache und der euren in Waffen sind und es jene Gemeinsamkeiten gilt, deren Gewalt erst die Gefahr uns offenbart. Ich habe nicht vergessen, was ihr mir ward und zutiefst noch seid, aber ich bin in diesen Tagen nicht der gleiche, der mit euch saß, mein Wesen ist gleichsam umgewandt und das, was in mir deutsch ist, überflutet mein ganzes Empfinden. Noch vermöchte ich, euch gerecht zu sein, aber ich finde den Willen nicht mehr, gerecht zu sein. Heute ist das Maß verwandelt, und jeder Mensch nur wahr durch Gemeinsamkeit mit seiner Nation. Meine eigene Sache ist jetzt nicht mehr, ich kenne keine Freundschaft, ich darf keine kennen, als die des ganzen Volkes, meine Liebe und mein Haß gehören mir nicht mehr zu. Und ich bin nur dann ganz wahr, wenn ich euch einzelne verleugne: der geringste plattdeutsche Bauer, der kaum ein Wort meiner Sprache versteht und sicherlich kein Wort meines Herzens, steht mir näher in diesen Stunden als ihr, ihr Lieben, denen ich so oft mich hingab mit meiner innersten Empfindung, immer von Verständnis umfangen, immer von Vertrauen umfasst. Die letzte Faser deutscher Erde in Ostpreußen sind mir wichtiger als eure Städte, deren Schöheit und vielfältiger Reiz jeden Kerb meines Wesens zum klingen brachten. Ich muß vergessen, was ich von euch empfing, um besser fühlen zu können, was alle anderen deutschen Leute empfinden. Nicht euch muß ich verleugnen und meine Liebe zu euch, sondern mich selbst, jeden einzelnen Gedanken knicken, der nicht aufschießt in der großen deutschen Saat.

Erwartet darum nicht, daß ich heute für euch spreche, daß ich sage, Belgiens Menschen sind nicht Meuchelmörder und Schänder von Verwundeten, die solche Taten tun, gehören in jene Unterschicht, die in jeder Masse den trüben Bodensatz bilden und von den Ereignissen emporgeschüttelt das Bild einer ganzen Nation trüben. Daß ich sage, Frankreich ist friedlich und nur verleitet, und nicht jeder Engländer sei perfid und pharisäisch, daß ich nichts tue, mich mit Worten jener Welle von Zorn entgegenzuwerfen, die Deutschland heute gegen ihre Bedränger schleudert. Ich weiß, es wäre gerecht, dies laut zu sagen, und weiß, wie schön es ist, auch in der Leidenschaft gerecht zu sein. Aber für die Schönheit ist heute kein Raum in der Zeit, nichts gilt als die Schönheit der Tat und ihre anderen Tugenden: Mut, Entschlossenheit, Zuversicht. Wer noch nicht mitkämpft, darf den anderen zumindest nicht in die Waffen fallen, nicht die Mahnung der Menschlichkeit gegen einen schleudern, dessen Zorn und Todesmut ein anderes und wahrhaft nicht geringeres Gesetz hat, als dem Betrachter gemäß ist. Der Soldat darf im Augenblick, wo er den Hahn abdrückt, nicht daran denken, daß sein Gegner den Krieg nicht gewollt habe und heimwärts Frau und Kinder seiner Rückkunft harren und so darf eine ganze Nation nicht zögern, mit ihrem ganzen innern Lebenswillen eine andere so lange zu hassen, als sie ihren Daseinssinn bedroht. Und diesen Haß gegen euch—obzwar ich ihn nicht empfinde—ich will ihn doch nicht mäßigen, weil er Siege zeugt und heldische Kraft. Jetzt ist keine Zeit zu einzelnen Feststellungen, zu persönlichen Gerechtigkeiten. Erwartet darum nicht, ich würde, so sehr ich mich euch verpflichtet fühle, euer Anwalt sein! Ehret mein Schweigen, wie ich das eure ehre, wie ich selbst schweigen würde, wenn ihr euer Volk gegen Deutschland aufriefet. Was wir persönlich einander danken, hat keiner jetzt zu verrechnen. Jetzt geht es ums ganze, und die Völker zahlen nicht mit Worten, sondern mit Waffen: lassen wir jetzt unsere kleine Gerechtigkeit der Worte und opfern wir unsere persönliche Freundschaft der höheren Gemeinschaft, deren Schicksal jetzt gestaltet wird.

Aber glaubt nicht darum, ihr Lieben, es sei mir leicht, dieses Schweigen! Ich muß die Zähne zusammenbeißen, wenn ich lese, daß die Bomben niedersausen auf Lüttich—vielleicht in das gleiche Haus wo wir oft gemeinsam saßen—, und daß Löwen zum Teil zerstört ist, scheint mir wie ein Verlust in meinem Leben. Ich lese, daß deutsche Flieger in die Rue Vivienne in Paris eine Bombe warfen: dort habe ich gewohnt, ich muß an den freundlichen Wirt an der Ecke denken, mit dem ich täglich herzliche Worte tauschte, an sein kleines Mädchen, das immer von mir die fremden Briefmarken erbat, und ich leide an dem Gedanken, an dem Bild meiner Phantasie, wie die Armen totenbleich von den zerschmetterten Scheiben zurückflüchteten. Aber wie kläglich ist doch wiederum dies mein Leiden gemessen an dem ungeheuren der Tausende, die, jung, lebensfroh und kühn vor Tagen noch, nun mit zerfetzten, verstümmelten Gliedern in den Lazaretten liegen! Kläglich dünkte ich mir selbst, wollte ich etwas, das mich allein bedrückt, jetzt Wort, jetzt Schrei werden lassen. Und nicht wahr, ihr Freunde, ihr fühlt nicht anders als ich? Ihr versteht mich auch in meinem Fernesein, in meiner schmerzhaften Fremdheit zu euch! Ihr wißt—oh, ihr wißt es, denn gemeinsam haben wir sie bewundert - wie sehr ich den Rubens liebe in der Kirche zu Mecheln und jeden Stein von Paris, jede Straße und jedes Haus. Aber ich darf nicht rufen: rührt nicht an Ewiges der Kunst, denn auch das, was Deutschland heute tut, ist für alle Ewigkeit. Deutschland dichtet sich heute in ehernen Strophen ein Heldenlied und seine Schlachten sind nicht geringer als alle Taten der Einzelnen. Auch eine Nation und ihre Einheit ist ein Kunstwerk, trächtig von unendlichen Kräften, und kein Bild, keine Musik kann unser Herz so erheben wie der Anblick dieses Landes in der Stunde seiner höchsten Schönheit. Aber hier, ihr Freunde, ich fühle es, hier ist die Grenze, hier verstehen wir uns nicht mehr, dies ist etwas, was man nur mit dem Blut erleben kann und nicht mit den Sinnen allein. Aber ihr erlebt es vielleicht drüben ebenso—nur ist ein Hüben und Drüben nun zwischen uns allen, über das wir nicht hinwegkönnen. Zu nah, um uns jemals zu hassen, und doch in dieser Stunde zu fern, um uns so voll zu verstehen, wie einst, wollen wir nicht Rede und Gegenrede tauschen. Das Schweigen wahre uns unsere Freundschaft!

Lebt darum wohl, ihr Lieben, ihr Gefährten vieler brüderlicher Stunden in Frankreich, Belgien und England, wir müssen Abschied nehmen für lange Tage! Unsere Freundschaft ist vergeblich, solange unsere Völker in Waffen sind, aber sie wird zwiefach wertvoll nach jenem großen Ringen. Denn dann wird statt jenes heiligen Zornes viel kleine Bitterkeit, viel niederer Groll, viel erbärmliche Gehässigkeit in der Welt sein, dann wollen wir unser Samariterwerk beginnen, die Wunden zu heilen, die unsere Brüder geschlagen haben. Wir wollen versuchen, soweit unsere Kräfte reichen, unsere menschliche Freundschaft vorbildlich zu machen für eine der Völker.

Dann kann das Wort, die Rede wieder stark werden—zur Zeit der Taten ziemt uns das Schweigen. Vergeht mich nicht, um der Pflichten willen, die wir dann zu erfüllen haben, so wie ich euch treu bin, mehr als ich es zeigen darf. Lebt wohl, ihr Lieben, lebt wohl, ihr Gefährten in Fremdland, lebt wohl, lebt wohl!