Lisa und der himmlische Körper

Silke Scheuermann

Artwork by Robert Zhao Renhui

Als ich wieder aus der Buchhandlung hinausgehe, trage ich ausnahmsweise keine Tüte in der Hand, nur diese irre Geschichte im Kopf, die mir Lisa Krauss erzählt hat—zufällig, weil draußen der Regen in großen, traurigen Tropfen fiel—, während sie unentwegt in ihrer Tasse rührte und ein Gesicht zog wie ein Kaninchen, mit dem jemand seltsame Experimente gemacht hat. Tja, sagte sie dann, bevor ich das Geschäft verließ, gut ausgehen kann es halt nicht immer, stimmt doch, oder? Und ich nickte und wurde den Verdacht nicht los, sie brächte da etwas durcheinander, verwechselte Sex mit Brutalität, Unterordnung mit Liebe und Liebe mit einer Aufgabe, aber gut, man konnte es auch positiv sehen—obwohl sie sich selbst nicht leiden mochte, bot sie sich Frieden an, das war doch was. Also ich muß dann mal los, sagte ich, warf ein langes Abschiedslächeln über unsere kurze Freundschaft und ging zur Tür. Erst jetzt, wenn ich eigentlich nach Hause will, bemerke ich, wie sehr sie mich beeindruckt hat mit ihrer unscheinbaren Art und den spektakulären Erlebnissen und daß ich mich nicht recht von ihr trennen kann in Gedanken, gerade so als hätte ich ihr durch die Löcher ihrer hellblauen Augen zu tief in die Seele gesehen und dort schauerliche Zustände gefunden, Verhältnisse, die auch mit mir etwas zu tun haben, und ich beschließe, nicht die S-Bahn zu nehmen, sondern nach Hause zu laufen, und zwar den Umweg durch ebenjenes heruntergekommene Viertel, von dem sie berichtete. Hauptwache, Roßmarkt, die obere Kaiserstraße. Ich gehe schnell, als ob ich jemanden suchen oder verfolgen würde, passiere Läden mit Haushaltswaren und erste Bars. Ein paar Kinder spielen in einer Pfütze, und ich finde, es ist hier unerwartet friedlich, so, als könnten die Menschen und die Dinge sehr leicht Freundschaft miteinander schließen. Aber es ist auch erst sieben Uhr abends, noch nicht auf diese spezielle Weise belebt. Der eintönige Mix aus orientalischer Musik und Popsongs wirft seine Fangnetze über meine frühe Müdigkeit, aus den Kebabbuden dringt der scharfe Geruch von gebratenem Fleisch, mischt sich mit dem Gestank von Urin und essigsaurem Putzmittel. Wie muß man sich Lisa vorstellen, als sie hier entlanggelaufen ist vor ein paar Wochen? Ich schließe die Augen, jetzt ist Nacht, und rosa und rote Leuchtreklamen punktieren die Straße. Nach und nach verschwimmen die Umrisse, auf das bunte Muster zeichne ich in Gedanken ein Bild von Lisa, wie sie hier die Straße heruntergeht, es flimmert und flackert und ist schwer schärfer zu stellen, ich habe ihre Stimme im Ohr, piepsig, sie haben mich alle be­lästigt, ich meine nur durch Gucken, tapfere kleine Lisa, wie ein Kind sieht sie die Details riesengroß und furchterregend. Sie ignoriert das Grinsen der Kerle, besonders dreckig feixt ein schnauzbärtiger Dicker, der vor dem Eingang einer Bar, unter der Abbildung einer barbusigen Nixe, steht, starrt demonstrativ auf die Wohnhäuser dahinter, deren ehemals weißer Verputz, vor allem unten, mit den Jahren schmutzig geworden ist, so daß sie aussehen wie verfaulte Zähne. Puffs, Imbißstuben, Nachtlokale. Ein großer Kombi fährt im Schrittempo neben ihr her. Durch die heruntergekurbelten Seitenfenster strecken zwei Männer mit dunklen Haaren die Köpfe heraus, um sie von oben bis unten zu ­taxieren. Sie zieht den Saum ihres bauchfreien T-Shirts mit dem Erdbeermuster herunter, ich hatte etwas viel zu Kurzes, Buntes an, was mit Früchten drauf, sagte sie, tja. Der Regen legte einen Mantel aus Wasser um die kleine Buchhandlung, und Lisa, jetzt wieder in ihrer gewohnten Kluft, lächelt entschuldigend. Im Frankfurter Bahnhofsviertel war sie für einen Moment sogar dankbar, dankbar für ihr mausbraunes Haar und die Beine, die wie blasse Mikadostöckchen aus dem Rock schauen, erleichtert, weil die Kerle bald das Interesse verlieren, ihre Blicke von ihr ­abrutschen wie von einer langweiligen Wand, dann aber schämt sie sich, weil ihr klar wird, daß es um ihre Chancen, sie könnte Sören gefallen, nicht eben gut steht. Der Kombi beschleunigt unsinnigerweise, um dann gleich darauf, an der Kreuzung, wo andere Autos die Straße blockieren, scharf abbremsen zu müssen und in ein enervierend gleichmäßiges Hupen zu verfallen, das Lisa vorkommt wie ein Warnsignal, extra für sie. Obwohl sie die Gegend aus Fernsehkrimis kennt, solchen, in denen eifrige Kommissare mit ihren attraktiven Assistenten gegen Drogendealer und Zuhälter ermitteln und dabei in rot ausgeleuchteten Clubs Frauen befragen, denen das Make-up vom Gesicht brök­kelt und die Brüste aussehen, als wollten sie gleich aus den Büstenhaltern hüpfen und sich schuldig bekennen, hätte sie nicht gedacht, daß es so unangenehm sein würde, hier entlangzugehen. Tja. Gut, daß sie zur Beruhigung die kleine Pistole dabeihat, die ihre Mutter ihr gekauft hatte, als sie hörte, Lisa würde zu ihrer ersten Buchhändlertagung ausgerechnet ins gefährliche Polen fahren, allein und mit dem Auto. Lisa ist froh, manchmal in ihre Handtasche zu langen, das kalte Metallding anzufassen und sich zu sagen, theoretisch kann ich mich immer wehren.

Als sie sich mit Sören verabredet hat, ist ihr zuerst nicht klargewesen, in welcher Gegend das XXL lag, wo sollen wir hingehen, hatte er gefragt, ins Café Komma, aha, das kennst du nicht, das Lebensfreude Pur, auch nicht, und Lisa bemerkte, daß er langsam ungeduldig wurde, so daß sie beim Namen XXL einfach ausrief, ja, natürlich, nur um nicht ganz so dumm dazustehen, und erst hinterher fiel ihr ein, daß es sich um diesen Laden im Bahnhofsviertel handeln mußte, der laut Auskunft ihrer Kolleginnen in der Buchhandlung, ziemlich in war—wo genau, schlug sie in den Gelben Seiten nach.

*

Während ich auf einen chinesischem Imbiß zusteuere, geht Lisa in meiner Vorstellung neben mir her, mit gesenktem Blick vorbei an der Gruppe Männer, die mit einem Türsteher verhandeln, sie tragen bunte Hemden, und einer hält eine Bierdose in der Hand. Während ich bei der schlechtgelaunt dreinblickenden Asiatin an der Theke einen Tee bestelle, bleibt Lisa draußen auf der Straße und sieht diese merkwürdige Passantin, von der sie mir mit Abwehr und schlecht verstecktem Entzücken in der Stimme erzählt hat, stell dir eine Frau vor, die oben und unten von der Farbe Violett eingerahmt ist, weil sie ihre Stöckelschuhe anscheinend passend zu ihrer Haarfarbe gekauft hat, oder vielleicht hat sie auch ihre Haare passend zu ihren Lieblingsschuhen getönt, Lisa sieht zu, wie die Violette den linken Riemchenschuh mitten in eine zerquetschte Schale rot-gelber Pommes frites setzt, wie die Masse ihr bis in die Ritzen zwischen Fußsohle und Schuhbett quatscht und die Frau es dennoch ­genausowenig merkt wie die Kuh, auf der sich Fliegen niederlassen. Während ich langsam den ersten, bitteren Schluck Tee nehme, biegt Lisa um die Ecke und prallt fast gegen einen jungen Mann in einer zerrissenen Jeansjacke, der so dünn ist, daß man die Wangenknochen in seinem Gesicht heraustreten sieht. Er hat die Arme durchgestreckt wie ein halb aufgeklappter Regenschirm und die Hände leicht angehoben an beiden Seiten des Körpers, als wolle er abheben. Seine Augen sind aufgerissen und sorgen für den Ausdruck von Glück in seinem Gesicht. Lisa starrt ihn schockiert an, weil er so sehr dem Jesusbild auf einem der Sammelkärtchen ähnelt, die sie als Kind in ihrer Bibel aufbewahrt hatte, um sie bei besonders langweiligen Predigten zu betrachten, und plötzlich meint sie, hier, auf der nächtlichen Straße des Bahnhofsviertels, Weihrauch zu riechen, genau wie damals in der Kirche. Aber der junge Mann, der fast noch ein Kind ist, starrt an ihr vorbei. Er sieht mit ­offenen Augen in den dunklen Himmel. Sein Blick gleitet die geheimen Wände eines inneren Museums entlang, und Lisa fallen die Deckengemälde der Kirchen ein, vielleicht sieht er so etwas Ähnliches auch hier. Der Gedanke bringt sie in eine so weihevolle und bedeutende Stimmung, daß sie sich gar nicht losreißen kann vom Anblick dieses heimlichen Gebets, sie nimmt es als Zeichen, daß dieser Tag der Begegnung mit dem un­bekannten Sören einfach ein besonderer ist. Sie denkt wieder an das kurze Gespräch mit ihm, wie gut war es doch, habe ich ­dauernd ­gedacht, daß ich endlich den Mut gefaßt hatte, die Anzeige im Stadtmagazin drucken zu lassen, denn schließlich haben ihr seiner und die vielen anderen freundlichen Briefe, die Antworten auf ihr Inserat mit Chiffrenummer, recht gegeben. Dabei war es gar nicht leicht gewesen, das zu ­formulieren, sie wollte ehrlich klingen, aber auch ein wenig rätselhaft, so daß es einen Spielraum gab. Sie hatte nach langen Überlegungen immer mehr von dem zu-erst fast dreißig Zeilen langen Text gestrichen, bis da nur noch stand, suche Mann für intensive Beziehung, das war ein bißchen geheimnisvoll und klang nicht gleich nach Heirat, das wäre ja auch albern, gleich am Anfang an so was zu denken.

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Nur um die unfreundliche Asiatin zu ärgern, bestelle ich noch einen Tee. Sie pustet gegen ihren Pony und liest zuerst ihre Zeitung zu Ende, bevor sie sich bewegt. Ich frage mich, ob darin auch Inserate sind und ob sie deren Geheimsprache besser versteht als Lisa, die einen Code getroffen haben muß, irgendein Signal gab mit ihren Worten. Vielleicht hat sie ja doch geschrieben, sie sei schüchtern, und hat es nur vergessen? Die Kerle, die antworteten, hießen Peter oder Jürgen oder Udo oder Tim, und die Briefe waren so nett, daß die Entscheidung schwerfiel. Lisa fand es toll, daß es so leicht war, jemanden kennenzulernen. Sie war zufrieden und glücklich, als sie sich an diesem Abend in ihre rot-gelb karierte Wolldecke wickelte und den Fernseher einschaltete, um den Spielfilm um Viertel nach acht Uhr anzusehen. Sie widmete sich ihrem Abendessen, das wie meistens aus einem in zwei Dreiecke geschnittenen Käsetoast bestand, garniert mit einer Tomate, in Scheiben und mit Salz bestreut, dessen kleine Kristalle man funkeln sehen konnte im Licht. Immer schon hatte sie es gerne, die perfekten Schauspielergesichter anzusehen und sich die schönsten Sätze aus Filmen zu merken, zum Beispiel, die Grenzen deiner Welt sind die Grenzen deiner Phantasie, oder, man haßt die Menschen dafür, was man ihnen angetan hat. Diesmal lief ein Film über eine Arztschwester mit einem Engelsgesicht, die im Krankenhaus auf merkwürdige Morde stieß, und alle Spuren führten zu dem von ihr angehimmelten Arzt. Daß Lisa sich für die Bewerbung des gebürtigen Kielers Sören entschied, lag daran, daß sie später, zufällig, noch in eine fabelhafte Dokumentation über die Ostsee schaltete, Die ewige Wiederkehr der Gezeiten, das war ein Wink des Schicksals, der so deutlich daherkam, daß er auf gar keinen Fall übersehen werden durfte.

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Mein zweiter Tee ist fertig, das Wasser dampft mich an, ich bedanke mich bei der Asiatin und bewirke ein müdes Lächeln in ihrem abgekämpften Gesicht. Lisa hat die Diskothek erreicht, XXL steht in großer grüngelber Neon-schrift über dem Eingang, vor dem ein paar junge Leute warten und so gelangweilt von einem Bein aufs andere treten, daß man glauben kann, sie wünschten sich ein drittes. Lisa vergewissert sich auf ihrer Armbanduhr, daß sie mehr als pünktlich ist. Um zehn vor elf denkt sie zu Hause allmählich ans Zubettgehen, aber heute ist sie kein bißchen schläfrig. Sie betritt die Diskothek hinter einem jungen Mann mit rasiertem Schädel, der in perfekter Eiform glänzt. Ob Sören wohl schon drinnen ist, fragt sie sich, zu dumm, daß sie keinen festen Treffpunkt ausgemacht haben, das kleine Foto wird reichen müssen, und umgekehrt die Tatsache, daß sie ihn hat wissen lassen, sie trage ein T-Shirt mit Erdbeermuster darauf. Wie sie so unschlüssig am Eingang herumsteht, wird sie von dem knochigen Ellenbogen einer jungen Frau mit sehr großen, glänzenden Augen ­ange­rempelt, die, anstatt sich zu entschuldigen, Lisa kichernd fragt, willst du auch nicht schlafen heute nacht und mit kühlen, trockenen Fingern nach ihrer Hand greift, um sie zum Eingang zu ziehen. Das ist, als ob sie Lisas Gedanken gelesen hätte und wüßte, daß Lisa gerade nicht allein sein will, sie erinnert sich wieder an den komischen Jesus, während sie auf die enganliegende Hose des Mädchens starrt. Das extravagante Schlangenmuster läßt, findet sie, dünne Beine etwas dicker aussehen. Sie lächelt die Frau an, ihre schöne kleine Nase und die glänzenden rosa Lippen, die blanken, blauen Augen, Porzellanunterteller. Auf einmal hat Lisa Vertrauen in die Zukunft gefaßt, sie weiß jetzt einfach, daß alle Langeweile ein Ende nehmen wird und die nächsten Jahre mit einer Fülle an Möglichkeiten vor ihr liegen. Sie gibt dem Türsteher einen Geldschein, und der drückt ihr und der Schlangenfrau dafür Stempel auf die Handrücken. Noch bevor Lisa sagen kann, daß sie keineswegs vorgehabt hat, für beide zu bezahlen, ist ihre neue Bekannte auch schon weg, Lisa sieht gerade noch, wie der Reptilhintern sich in Richtung einer Metalltür im Flur schlängelt, auf der ein Foto von Lady Di die Damentoilette anzeigt, gleich neben der Tür mit dem Foto von einem Reitlehrer. Lisa unterdrückt den Impuls, ihr zu folgen, Sören wartet vielleicht schon. Sie geht hinein in die Diskothek, die sie schön findet, steuert seitlich an der Tanzfläche vorbei, die ein sanftes, orangefarbenes Licht bestrahlt, auf die Bar zu. Dabei schaut sie die wenigen Anwesenden genau an, was gut möglich ist, denn es ist noch ziemlich leer. Sie hatte sich das nicht besonders scharfe Foto genau eingeprägt, aber Sören scheint nicht dabeizusein, und nach kurzem Zögern beschließt sie, nicht wieder hochzugehen zum Eingang, sondern lieber hier Platz zu nehmen.

Sie setzt sich extra auffällig hin, zwingt sich, ihren Barhocker nicht allzusehr in die Ecke zu rücken, damit er sie auch sehen kann. Der Glatzkopf, hinter dem sie herein­gekommen ist, sitzt schon da, und er fühlt sich sichtlich wohl, denn halb auf seinem Schoß, halb an ihn gelehnt hat er ein Mädchen mit langen roten Haaren, das er mit den Händen um den Bauch knapp unter den Brüsten umklammert, und die beiden aneinandergelehnten Köpfe, der glatte und der haarige, grinsen so breit, daß das Grinsen von einem Gesicht zum anderen führt und die beiden Körper verbindet wie ein Gürtel.

Lisa winkt der üppigen Frau hinter der Bar zu, die schwarz mit Kajal umrandete Augen und ebenfalls schwarze Lippen geschminkt hat, aber die sieht sie anscheinend nicht, obwohl sie direkt in ihre Richtung zu gucken scheint, erst als Lisa ungeschickt ruft, hallo, kann ich etwas bestellen, kommt sie auf sie zu und sagt, natürlich. Sie hat den gesamten linken Oberarm mit einem komplizierten Geflecht aus Symbolen, Buchstaben und Tierfiguren tätowiert, Lisa kann gar nicht aufhören, diese merkwürdige Verzierung anzustarren, bis die Frau genervt mit den Augen rollt und fragt, also was denn nun? Lisa bestellt einen Sekt, der sie noch durstiger macht, sie trinkt und sieht, wie die Bedienung sich wegdreht. Ihr Rücken ist breit wie eine verschlossene Tür.

Langsam wird es voller. Vereinzelt beginnen einige besonders schöne Mädchen zu tanzen, sie sieht flackerndes Licht auf ihren bronzefarbenen Armen und Beinen, unwillkürlich schaut sie an sich herunter und ärgert sich, daß sie nicht daran gedacht hat, ins Solarium zu gehen. Andererseits war Sören aus Norddeutschland vielleicht Frauen mit hellerer Haut gewöhnt—und Gewöhnung, das weiß Lisa von sich, das ist ein starker Magnet. Das ist ein angenehmer Gedanke, schließlich will sie sich nicht alle Vorfreude verderben, und außerdem hatte es am Telefon, als er diese unmöglich späte Zeit vorschlug, durchaus so geklungen, als wolle er sie recht dringend treffen, und das würde heißen, daß er vielleicht eine Freundin brauchte zur Zeit, das wäre wunderbar, denn sie, ja sie braucht dringend jemanden, mit dem sie abends zusammensein kann, um mit ihm über den Tag zu reden, und vielleicht werde ich ein paar hübsche Begebenheiten dazuerfinden und daran glauben, daß es passiert sei, nur weil ich es laut gesagt habe.

Während ihrer Lehrzeit, als sie noch zu Hause wohnte, war sie abends wenigstens nicht so allein gewesen, auch wenn ihre Eltern sie manchmal nervten, aber jetzt, in den sieben Wochen, die sie in ihrer kleinen Wohnung am Adlerflychtplatz lebt, macht ihr das zu schaffen. Sie mußte sich dann immer wieder sagen, daß es zu Hause auch nicht so toll gewesen war. In die Änderungsschneiderei ihrer Mutter kamen häufig die Eltern oder Tanten ihrer alten Klassenkameraden und erzählten von den ehemaligen Mitschülern, die alle aufregende Sachen machten. Der dicke Alexander Becker zum Beispiel war Tauchlehrer in Thailand geworden und paddelte in denselben Gewässern herum, in denen auch die James-Bond-Filme gedreht worden waren, Felicitas Dauth, die mit zwölf schon eine Dauerwelle trug, studierte jetzt Möbeldesign in London, Pit hatte monatelang die Wüste durchwandert und Katharina einen berühmten Genforscher geheiratet. Lisa konnte aus diesen Informationen nur ableiten, daß das Leben offenbar anderswo spielte, und daher war sie beim Umzug guten Mutes gewesen, in der Stadt könne sich etwas ändern. Als sich dann keine Veränderung einstellte, hatte sie die Anzeige aufgegeben. Das beweist doch Mut, und den Mutigen gehört die Welt. Erneut späht sie nach Sören, aber niemand sieht dem Foto auch nur entfernt ähnlich; keiner erwidert ihren suchenden Blick.

*

Ich bezahle meinen Drink. Ich habe zweimal die Bar gewechselt inzwischen und schon die nächste im Visier. In den Straßen ist es voller geworden, und es gefällt mir, mich hier herumzutreiben, genauso wie es mir gefällt, daß ich nicht wie Lisa bin, nicht in Ansätzen. Ich habe gelernt, mich auf eine bestimmte Art zu kleiden, mir eine bestimmte Art von Selbstvertrauen auf den Mund zu malen, rot, orange oder rosa, je nachdem, was gerade in Mode ist, eine bestimmte Art Musik zu hören, auf diese Art Musik zu tanzen, sogar wenn alle hinschauen, sogar wenn die Tanzfläche noch ganz leer ist, ja, manchmal finde ich sogar Spaß daran—dann, wenn es mir gelingt, mich komplett im vorgegebenen Rhythmus aufzulösen. Wenn mein Körper nicht mehr mir ge­hört, sondern dem Willen irgendeines unbekannten Gottes gehorcht. Ich habe auch schon eine Menge Männer gekannt, und gerade weil ich früher auch einmal so ­roman­tisch veranlagt war wie Lisa, hätte ich ihr gewünscht, sie hätte wenigstens ihre Jungfräulichkeit anders verloren, an einem Abend, an dem sie sich hübsch fühlte, in ihrem ­eigenen Zimmer war, mit jemandem, der sich ihr gegenüber liebevoll und zärtlich verhielt, der nicht bloß bizarre Stellungen kannte, sondern sie streichelte und küßte, vorher und nachher.

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Aber Lisa war erst zweimal in ihrem Leben verliebt ge­wesen, einmal vor, einmal nach dem Schulabschluß, und beide Male, von Anfang bis Ende, unglücklich. Ich habe sie nach ihren Erfahrungen gefragt, und sie erzählte von diesen Geschichten, die doch schon Jahre zurücklagen, so detailliert wie man eine Wunde beschreibt, die einem gerade erst zugefügt wurde. Alles noch ganz frisch. Wegen Hansi, der eigentlich Hans-Günther hieß, war sie jeden Nachmittag nach der Schule bei den Tennisplätzen des TSV Schwarz-Weiß herumgestrichen, wo er in weißen Shorts und weißen Socken trainierte. Als sie ihm dennoch nicht auffiel, bat sie zu Hause darum, Tennisstunden zu bekommen, aber ihre Mutter nahm nur einen ihrer dünnen Oberarme zwischen die eigenen, rundlichen Finger, drückte fest darauf und fragte freundlich, mit welchen Muskeln willst du denn spielen? Der wahre Grund war natürlich das Geld gewesen. Lisa hatte dann die Idee, so zu tun, als ob sie früher einmal Tennis gespielt hatte und wegen einer interessanten Sportverletzung aufgehört hatte, sie informierte sich über die Regeln und bekannten Spieler, aber es war ­alles umsonst, wie sie sagte, die Geschichte hockte in ihr drin wie ein seltenes Tier, das keiner aus der Höhle locken wollte, sie kam nicht mit Hansi ins Gespräch, nur mit seiner Mutter, die häufig vor einem Glas Weißwein an der Tennisbar anzutreffen war. Wer dann tatsächlich auf sie aufmerksam wurde, war der Kellner der Tennisbar, der an eine Made erinnernde, weiße und dickliche Ralf Buselfink, dessen abstehende Ohren dem Wind groß und glänzend trotzten wie die Blätter eines Gummibaums. Doch dann merkte sie, daß er oft bei den Festen und Turnieren der Mannschaft, in der Hansi spielte, dabei war, so daß, wenn er erzählte, mehr oder weniger häufig der Name Hansi auftauchte, und das war immerhin besser als gar nichts. Als er ihr androhte, sie werde ihm zu langweilig, hatte sie auch Sex mit ihm, Sex, der sich so gestaltete, daß sie vor ihm kniete und er ihr immer wieder den Schwanz in den Mund stieß, bis Lisa einen Brei im Mund hatte, der durch Ralf Buselfinks konsequente Einnahme von Eiweiß- und Vit­aminpräparaten einen Geschmack von Terpentin hatte und sie zwang, sich den Rest des Tages über alle zwei Minuten den Mund auszuspülen. Nachdem Ralf einmal nebenbei erzählt hatte, daß Hansi eine Freundin habe und nach dem Abitur mit ihr in die Stadt ziehen wolle, hörte sie auf, ihn zu treffen und überhaupt zu den Tennisplätzen zu gehen. Sie strich einen Pilgerort von ihrer inneren Landkarte.

Es dauerte Monate, bis sich ihre Welt wieder ein wenig vergrößerte. Bei einer Buchhändlertagung in Polen lernte sie dann Klaus kennen. Ihm öffnete sie, obwohl er verheiratet war, vier Abende in Folge die Tür zu ihrem Hotelzimmer, er zeigte ihr, wie sie ihn mit der Hand am Glied fassen und es zuerst groß und dann wieder klein machen konnte, aber geschlafen hatte auch er nicht richtig mit ihr, vielleicht, sagte Lisa, fängt bei ihm da der Ehebruch an, vielleicht, antwortete ich und, hat er das wirklich so ausgedrückt, in dieser Babysprache, zuerst groß und dann wieder klein, sie sagte, ja.

*

Um Viertel vor zwölf kommt Sören endlich. Lisa erkennt die Gestalt im weiten, weißen Hemd gleich, die da quer durch den Raum pflügt, zielstrebig wie eines der Segelboote auf der Ostsee, die sie in der Dokumentation gesehen hatte. Er sieht nicht richtig gut aus—vielleicht, weil die Beine im Vergleich zum Oberkörper etwas zu kurz sind—, aber dieser Eindruck wird wieder wettgemacht von der ­Ener­gie, die er ausstrahlt. Das auf jeden Fall, und sowieso hat sie sich fest vorgenommen, nicht enttäuscht zu sein, nicht einmal, wenn er vielleicht kugelrund oder extrem klein ist, und dies ist beides nicht der Fall. Da, jetzt hat er sie erkannt, seine hellen blauen Augen heften sich auf ihre Brüste unter dem Erdbeermuster, und er lächelt ein Lä­cheln, das ihr vorkommt wie eine kühle Meeresbrise. Was für eine Hitze hier drin, sagt er, noch bevor er sie überhaupt gefragt hat, ob sie denn Lisa sei. Dabei sieht er so frisch und sportlich aus in seinen weiten Baumwollsachen, die um ihn herumflattern wie schmeichlerische Segel, daß sie gar nicht glauben mag, ihm sei heiß. Blitzschnell setzt er sich auf einen Barhocker, wo man das Mißverhältnis seiner bei­den Körperhälften nicht mehr bemerkt, und Lisa findet ihn nun doch so attraktiv, daß sie ihm sofort alle Verspätung entschuldigt. Anstatt also eine Bemerkung dazu zu machen, sagt sie mit wackeliger Stimme in sein Grinsen hinein, ja also, ich bin Lisa, und es irritiert sie, daß er nichts antwortet, sondern sie nur von oben bis unten und unten bis oben taxiert wie etwas, das er sich vielleicht zu kaufen gedenkt, aber noch nicht sicher ist, ob sich die Investition auch lohnt. Lisa hätte es passend gefunden, wenn er dabei wenigstens etwas gesagt hätte, andererseits fällt ihr selbst ja auch nichts ein, daher ist sie froh, daß die Bedienung nun kommt, diesmal von ganz alleine und mit einem dicken Lächeln, das vermutlich von Lisas hohem Trinkgeld von vorhin herrührt. Bis die Drinks kommen, schaut er sie weiter einfach nur an, und sie fühlt sich merkwürdig. Sie hat irgendein Zeichen der Enttäuschung erwartet, aber sein Blick spaziert nur gemütlich auf ihr herum, ohne daß er ­etwas verrät. Lisa trinkt aus Nervosität ihr Glas in einem Rutsch aus, Sören pfeift vergnügt und bestellt mit einem Fingerzeig ein neues. Ich wohne in Bornheim, sagt sie dann, und er antwortet desinteressiert, ja, das hast du am Telefon erzählt, und ich weiß, daß das nicht stimmt, denn, sagt sie zu mir, das habe ich gar nicht erzählt, aber sie macht Sören nicht darauf aufmerksam, und wieder trinkt sie, das ist gut gegen die Nervosität, und um sie herum beginnen die Wände der Diskothek langsam ein- und auszuatmen, der Raum dehnt sich und zieht sich wieder zusammen, als stecke sie in einer geheimnisvollen Pumpe.

Kontaktanzeigen sind das beste, sagt Sören auf einmal unvermittelt, er beendet den Satz, indem er sein Glas auf die Bar knallt, und Lisa überlegt, das beste von was, sie weiß nicht gleich, ob sie ihn wegen der Musik, die lauter und klopfender wird, falsch verstanden hat, aber da ergänzt er zum Glück, indem er in ihr verwirrtes Gesicht hineinbrüllt, es ist so herrlich unkompliziert, jemanden kennenzulernen, weißt du, ich hasse es nämlich, meine Zeit zu verschwenden. Lisa weiß zwar nicht recht, ob ihr diese Bemerkung nun gefallen soll, findet aber die Ansicht interessant, denn so hat sie Liebe auf den ersten Blick noch nie betrachtet: als Möglichkeit, Zeit zu sparen. Sie knüllt ein leeres Zigarettenpäckchen zusammen, das jemand auf der Theke ­liegengelassen hat, und überlegt. Wenn er es tatsächlich haßt, seine Zeit zu verschwenden, gleichzeitig aber immer noch bei ihr sitzen bleibt, kann das nur bedeuten, daß er—so ungeheuerlich ihr das vorkommt, es erscheint logisch—, daß er sie mag. Was machst du denn beruflich, ruft sie, und ihre hohe Stimme kämpft gegen den Lärm an, gegen diese zu hohe und kräftige Mauer, aber er wackelt nur nickend mit dem Kopf, vermutlich hat er sie gar nicht verstan-den, und führt die Zigarette an seine großen weißen Zahnquader. Sie wiederholt es noch mal, und da rückt er näher, bis sein Mund fast ihr Ohr berührt, und sie riecht das ­Nikotin in seinem Atem, vermischt mit einem süßlichen After-shave und etwas Schweiß, und die Mischung verwirrt sie so sehr, daß sie die Antwort nicht genau mit­bekommt, aber es hat mit Computern zu tun. Ach, wie interessant, sagt sie, und da lacht er mit einem verächtlichen Unterton und sagt, soso, und sie denkt sich, daß er ver­mutlich so hoch spezialisiert ist, daß er es ihr kaum erklären kann und außerdem auch keine rechte Lust auf eine Diskussion mit einem Laien hat, und das ist natürlich beides sein gutes Recht. Er hat die Anzeige schließlich beantwortet, um seine Freizeit zu gestalten. Er rückt seine Lippen wieder zu ihrem Ohr, fühlst du dich entspannt, fragt er, ich hoffe doch, und er lächelt, trinkt dann einen Schluck aus dem Glas und sieht sie wieder an, diesmal mit leicht zusammengekniffenen Augen. Ja, sagt Lisa sofort, zustimmend und ohne zu überlegen, und als sie es sagt, merkt sie auch, daß es stimmt, sie fühlt sich tatsächlich entspannt. Das war die richtige Antwort, er nickt zufrieden und fragt weiter, du hast doch Phantasie? Lisa ist begeistert, er interessiert sich für ihren Charakter, diese scheinbare Zusammenhang­losigkeit des Gesprächs ist doch mit Sicherheit nur in seiner Unsicherheit zu begründen, aber das ist wirklich nicht schlimm, nichts kann sie besser verstehen als das, und mit flatternden Händen sagt sie, ja, Phantasie, ich habe Phantasie, habe ich, ja, wie ein Mantra, und sie fragt sich, wie es möglich ist, daß dieselbe Situation, die sie in ihren Tagträumen mehr oder weniger überfordert hat, in Wirklichkeit so problemlos und schön sein kann. Sie trinkt ihr Glas aus, es spricht sich einfach leichter, Phantasie, trumpft sie erneut auf, und sie bemerkt, daß dies, ­eigentlich, auch stimmt, obwohl das noch nie jemand von ihr behauptet hatte. Aber jetzt liegt ihr Charakter so weit offen vor ihr wie die Tür eines herrschaftlichen Schlosses, und drinnen befinden sich ihre Eigenschaften als kostbare Einrichtung, von denen sie, bevor sie Sören kannte, gar nichts geahnt hat, nein, da mußte erst einer kommen und eine Führung veranstalten, hier, meine Damen und Herren, ist Lisas Bauch, hier ist ihr Herz, hier sitzt ihre Vorliebe für den Montagskrimi im Ersten, und dort das große, bunte, das aussieht wie eine freundliche Wolke, das ist ihre Phantasie.

*

Mir dieses Gespräch Satz für Satz zu schildern war ihr wichtig, sie runzelte ihre Stirn dabei, als gelte es, einen Test zu bestehen. Inzwischen habe ich begriffen, daß sie nur auf diese Weise glaubte, sich für den Rest des Abends recht­fertigen zu können. Sie suchte immer noch nach dem Mißverständnis, das allem zugrunde lag. Tatsächlich kann ich mir nur zu gut vorstellen, wie sie das Schweigen, das dann kommt, als gutes Schweigen interpretiert, schließlich lieben die Norddeutschen das Stillsein ja auch besonders, wie sie fasziniert, angetrunken, beobachtet, wie Sören ab und zu einen Schluck aus seinem mit zitronengelber Flüssigkeit gefüllten Glas nimmt, wie er seine Finger in einer Ballettaufführung tanzen läßt, nur um ein bläulichweißes Papiertaschentuch zu seinen roten, feuchten Lippen zu führen und sie abzutupfen. Lisa sieht gebannt diesem Schauspiel zu, und dann, plötzlich, fängt er ihren bewundernden Blick auf, hält ihn, als jongliere er einen Ball in der Luft, lächelt, sagt, gehen wir, ich zeige dir meine Wohnung, und Lisa geht mit, denn in Filmen ist man doch auch immer so schnell und direkt, nicht wahr?

Beim Gehen taucht sie mit jedem Schritt in Watte, und als sie an sich heruntersieht, bemerkt sie, daß der Widerschein der rosa Neonschriften ihre Beine aussehen läßt wie Flamingobeine, sie muß kichern und benutzt das als Vorwand, sich einen Moment lang an Sören zu lehnen. Es herrscht inzwischen Stop-and-go-Verkehr, stockdunkel ist es geworden, ein Lokal sieht aus wie das andere. Das Bahnhofsviertel ist offenbar in der Zeit, die sie in der Disko­thek verbracht hat, zu einer eigenen Stadt mit ungeahnten Möglichkeiten angewachsen, zu einem Moloch, zu dem es keinen konventionellen Lageplan gibt. Lisa fühlt sich wie in einem Spiegelkabinett, weil es so aussieht, als würden die Fassaden einzelner Bars und Clubs immer aufs neue wiederholt. Es hätte sie nicht erstaunt, hier auch Sören und sich noch ein paarmal zu begegnen. Auch die Zahl der ­Besucher hat sich vervielfacht, aber diesmal, in Begleitung von Sören, der mit zielsicheren, festen Schritten das Tempo bestimmt, glotzt niemand Lisa an, im ­Gegen­teil, umgekehrt betrachtet jetzt sie ungeniert die Menschen, dort die Frau, die ihre langen Beine in hochhackigen Stöckeln ­untergebracht hat und ihren kleinen Hintern im knappen ­roten Minirock herausstreckt, dort die Gruppe grimmig dreinblickender Männer mit grauen Anzügen und gelben Krawatten und dort einen winzigen Mann, der einen Kampfhund mit hängendem Gesicht und roten Augen an der Leine führt. Normalerweise wechselt Lisa, wenn ein Hund dieser Größe auf dem Fußgängerweg herumgeführt wird, die Straßenseite, aber nicht jetzt. Was immer nun passiert, es ist gut, glaubt sie, und die Welle der Vorfreude spült sie nach vorne. Als Sören ihr den Arm um die Schultern legt, weil sie leicht schwankt, hat sie das ­Gefühl, sie passe sich mühelos dem Rhythmus seiner Schritte an.

Nach zehn Minuten machen sie halt vor einem Haus, das krumm und schief in der Straßenecke hängt, tappen die Treppe hoch und dann durch den Flur, der sie an einen Tunnel erinnert, mit dem fahlen Fensterlicht am Ende. Kurz davor befindet sich eine Tür, Sören bückt sich, offenbar, um einen Schlüssel unter der Fußmatte hervorzu­holen, die Tür gibt quietschend nach. Gespannt, was sie nun erwartet, macht Lisa einen erobernden Schritt nach vorne. Dann geht sie den Schritt wieder zurück, als wolle sie dem Raum noch eine zweite Chance geben, als erwarte sie, daß das Zimmer nur einen Spaß mit ihr gemacht hat, um sogleich zu einem freundlichen Zweizimmerappartement zu werden, mit einem runden Küchentisch und einer Flasche Rotwein, die auf Sören und sie wartet, aber die Wohnung bleibt, was sie ist, ein Loch.

Noch dazu eines, das jemand ungeschickt zu stopfen versucht hat, was im Ergebnis noch trostloser aussieht. Ein länglicher Teil der Fensterscheibe ist neu eingesetzt und zeigt wie ein sauberer Finger auf die anderen drei Teile um das Fensterkreuz herum. Ansonsten gibt es ein Bett, einen Stuhl und einen halbblinden Spiegel, der verziert ist von einer Kette fabrikneu funkelnder bunter Lämpchen, die vage Erinnerungen an Partydekoration wecken. Die graubraune Tür führt vermutlich ins Badezimmer und erweckt den Eindruck, es könne dort jeden Augenblick mit befriedigtem Gesichtsausdruck ein Junkie herausspaziert kommen. Hier wohnt mit Sicherheit niemand. Langsam färbt sich Lisas Stimmung dunkler, als habe sie in ein Glas reiner, schöner Milch einen Löffel Kakao gerührt, und es entsteht eine bräunliche Suppe. Sie sieht sich um, Sören verschließt gerade die Tür von innen und steckt den Schlüssel in seine Hosentasche, er hat nicht aufgehört zu lächeln, schau an, denkt sie, das ist es also, was er gewollt hat, hier mit mir in diesem schäbigen Zimmer zu schlafen.

Und mit vor Trauer wahnsinnigem Mut überlegt sie, ihm den Schlüssel zu entreißen und rauszustürmen, die Treppe wieder hinunter, die Straße entlang, zurück, zum Bahnhof, in die S-Bahn, nach Hause und dort in ihr Bett, die Decke über den Kopf ziehen, alles vergessen.

Aber Sören benimmt sich plötzlich merkwürdig, zusammengesackt sitzt er auf dem Bett, sieht sie mit fragenden Augen an, ist was, fragt Lisa unsicher, weil er sie in dieser Verwandlung an eine Diabetikerin erinnerte, die sie einmal gekannt hat, eine sehr laute und energische Person, nur kurz bevor sie ihre Spritze brauchte, fiel sie wie ein miß­glückter Kuchen in sich zusammen, und dann bat sie darum, sich hinlegen zu dürfen, bis sie später, wenn sie sich langsam wieder erholte, nach einem Glas Wasser fragte. Geradezu mütterliche Sorge empfindet Lisa nun für Sören, was hat er für eine Krankheit, was kann sie für ihn tun? Und die Antwort kommt tatsächlich, fast kläglich, wie ­angeschossen, fragt er, darf ich dich anziehn?

Anziehn? Lisa versteht nicht, fühlt, daß hier etwas ­Ungesundes, etwas Gespenstisches geschieht, bestätigt, was meinst du denn mit anziehen?

Sören bückt sich und langt an einen bestimmten Platz unter dem Bett, dort kramt er eine Plastiktüte hervor, er schüttelt etwas Schwarzes heraus und glättet die leere Tüte mit der Hand, wie ein eifriger Boutiquenmitarbeiter, nur um dann noch behutsamer zu werden mit dem Inhalt, er überreicht ihn ihr wie Kronjuwelen. Lisa, angesteckt von der Feierlichkeit seines Gesichtsausdrucks, nimmt die Gabe mit ausgestreckten Armen entgegen. Sie faltet alles auseinander und sieht es sich an. Es sind zwei Teile, zwei Teile für zwei Füße, beziehungsweise Beine, ein Kleidungsstück zwischen Stiefel und Strumpfhose, gemacht aus läng­lichem, knautschigem Gummi. Sie wiegt es in der Hand, schielt hoch, da ist ein kindlich begeisterter Ausdruck in seinem Gesicht, als er sagt, warte, ich helfe dir und plötzlich mit den Fingern an ihrem Rockbund herumfummelt, wie ein kleiner Junge, der verbotenerweise mit der Puppe seiner Schwester spielt, und all das macht sie jetzt doch neugierig – als habe sie aus Versehen in einen dieser komischen Kunstfilme auf Arte oder 3sat hineingeschaltet, ein Film mit Szenen, die, wie sie sagte, ohne Zusammenhang mit dem eigentlichen Plot lang im Gedächtnis bleiben, und willenlos läßt sie es geschehen, daß er ihr Rock, T-Shirt und Unterhose auszieht.

Das Gummiding streift sie sich alleine über, während Sören sich vor sie kniet, um ihr zu helfen, die Sachen pappen ihr klebrig an der Haut, sind nur mühsam hochzuziehen. An den Oberschenkeln muß sie sie zuschnüren wie Schlittschuhe. Sören hält jetzt, vorsichtig, als handle es sich um neugeborene Babys, zwei schwarze Pumps in der Hand, Schuhe, die längst nicht mehr neu sind, im Gegenteil, die Absätze sind schief und der Lack an den Seiten eingekratzt, eine Schäbigkeit, die in keinem Verhältnis steht zu der Zärtlichkeit, mit der er sie vor ihre Füße stellt, und sie zieht die Schuhe an, balanciert auf den hohen, unten in spitze Eisennägel zulaufenden Absätzen, jetzt ist sie ein gutes Stück größer als Sören. In diesem absonderlichen Aufzug und mehr als verwirrt steht sie dann vor ihm und schämt sich, doch er sagt, du bist so schön und sieht sie mit einem derart bewundernden Blick an, wie sie es noch nie erlebt hat, und auf einmal findet sie das ganze häßliche Drumherum gar nicht mehr so schlimm, vielmehr auf­regend, denn schließlich unterstreicht es noch, daß alles etwas Besonderes ist, schließlich fühlt sie sich wie eine ­Königin, so stolz und attraktiv. Sie geht ein paar Schritte auf und ab. Diese Kleidungsstücke sind wie ein Kostüm, das ihr ­allein durch seine Existenz in dem seltsamen Theaterstück, in das sie geworfen worden ist, souffliert. Der halb­blinde Spiegel zeigt das Ergebnis: eine völlig fremde, abstrakte Person, ein Muster, oben weiß, unten schwarz, und da, gerade als sie hineinsieht, knipst Sören die Lämpchen darüber an, und sie sieht sich noch einmal anders, formvollendet aufgelöst in lauter bunte Flecken, die Madonnenfigur in einem mittelalterlichen Kirchenfenster.

Gebannt starrt sie in den Spiegel, sieht, wie ein Umriß sich ihr nähert, nackt, weiß. Blitzschnell hat er sich aus­gezogen, sie fühlt eine Zunge im Mund, nicht weich und schneckenglitschig wie bei Klaus, sondern klein und so hart, daß sie mit ihren Schubsern ihre Zähne lockern könnte. Soll ich die Sachen wieder ausziehen? fragt sie in seinen Mund hinein, und sie ist ganz erschrocken über ihre Stimme, die klingt wie ein Biß. Nein, sagt Sören, jetzt geht es weiter, jetzt ist deine Phantasie gefragt, streng dich ein bißchen an, und er legt sich ohne weiteres rücklings auf das Bett, so daß die kleinen bunten Lämpchen ihn von oben beleuchten wie einen Spieltisch. Unsicher betrachtet sie ihn, sein Glied ragt in die Höhe wie der Schalthebel eines Autos, und er scheint auf irgend etwas zu warten, etwas, das sie tun soll, aber sie weiß nicht, was.

Nachdem er eine Weile so dagelegen hat, flucht er etwas, das Lisa nicht versteht, und rollt sich mit einem ärgerlichen Seufzen auf sie. Sie spürt einige Stöße und einen stechenden Schmerz, sie schreit. Er legt ihr die Hand auf den Mund und sagt, hätte gar nicht gedacht, daß du so geil bist. Daraufhin wimmert sie nur noch leise, versucht, ihren Kopf an seinem schweren Körper vorbeizuschieben, damit sie Luft bekommt. Also zuerst ist alles gräßlich, furchtbar, ­widerlich. Aber dann sieht sie sein Gesicht.

Es ist asymmetrisch verzerrt, ganz so als befänden sich über ihr zwei halbe, dunkle, mit unsichtbaren hellen Wimpern und Augenbrauen versehene Gesichter von jeweils ganz verschiedenen Personen, und gerade diese Unterschiedlichkeit bei der Gleichheit in der Ekstase erinnert Lisa an die verschiedenen, trotz der Kamera in sich gekehrten Gesichtsausdrücke der wettergegerbten Fischer, die in dem Dokumentarfilm über die See vorgekommen sind, und all das bewirkt, daß sie fast so etwas wie Gefallen an allem findet, sie betrachtet seine ­geschlossenen Augen, den Mund, der sich unter leisem Stöhnen immer wieder öffnet und schließt, im gleichen Rhythmus wie das Stechen zwischen ihren Beinen. Der Schmerz pocht und klopft, er reduziert ihren Körper auf diesen einen Flecken an ihrem Handrücken, und obwohl ihr die Tränen das Gesicht herunterlaufen, weil es so weh tut, empfindet sie das gleichzeitig auch als eine Entlastung, gerade so, als ob der Schmerz aus ihrem Herzen auf die viel kleinere Fläche zwischen ihren Beinen zusammengefaßt und überschaubar geworden sei, kontrollierbar. Sie wird zu einem Pfeil aus Haß, Selbsthaß, und sie beginnt, es zu ­mögen. Wirklich gern zu haben. Komisch, nicht? Aber dann ist es plötzlich vorbei, Blut und Samen kleben an ihrem Oberschenkel, Sören dreht sich weg und bleibt zusam­men­­gerollt liegen, er sieht friedlich aus, als würde er schlafen. Hallo, sagt sie unsicher, aber er grunzt nur drohend. Sie bemerkt eine Spinne, die über das untere Ende der Bettdecke krabbelt, und die Schmutzränder an der Wand, und auf einmal ekelt sie sich unglaublich, und von dem Alkohol wird ihr schlecht. Sie steht auf, rennt ins Bad, würgt über dem Waschbecken, aber es kommt nichts, und daraufhin spült sie mit wenigen Handgriffen ihre steife, schmerzende Scheide aus. Eine Weile steht sie da und starrt einfach in das Waschbecken, bis sie bemerkt, daß alte Haare im Ausguß kleben, kringelige, die nicht wie Kopfhaare aussehen.

Langsam wird ihr bewußt, was passiert ist und was nicht, Sören, sie räuspert sich, Sören, ich gehe. Ja, hau ab, sagt er unfreundlich, ohne sie dabei auch nur anzusehen, und sie wünscht sich, nichts gesagt zu haben. Sie beginnt, sich anzuziehen, mit raschen, festen Bewegungen. Ihre Haut ist an vielen Stellen klebrig von Sörens Schweiß. Als sie ihr ­T-Shirt überstreift, denkt sie flüchtig daran, wie sie am frühen Abend, frisch geduscht, über ihren mit Kokos­milch eingecremten Körper alle fünf Röcke, die sie besitzt, probeweise mit Oberteilen kombinierte, bis die Zusammenstellung, die ihr am geeignetsten vorkam, endlich gefunden war. Darüber hätte sie jetzt gerne gelacht, aber das geht nicht, die Tränen stauen sich schon. Es war vollkommen egal gewesen, was sie anhatte. Sie weint immer noch nicht, als sie den Schlüssel aus Sörens Hosentasche nimmt, aufschließt und hinausgeht: Sie weiß, wenn sie jetzt damit anfängt, wird sie nie mehr damit aufhören können.

*

Draußen schießt die Sonne Morgenlicht in ihre Augen, es brennt, als habe ihr jemand Pfeffer hineingestreut. Sonnen­blind stolpert Lisa vorwärts, beinahe stößt sie gegen einen der Müllmänner in orangefarbenen Neonjacken, die mit Zangen den Abfall vom Boden aufheben und dabei aus­se­hen wie große, hungrige Vögel. Das Leben geht hier seinen gewohnten Gang und nimmt von ihrer Enttäuschung kei­ner­lei Notiz. Das blonde Mädchen in der Schlan­gen­leder­hose ist vermutlich bereits nach Hause gegangen, schlafen, oder nein, wahrscheinlicher ist noch, daß sie jemanden kennengelernt hat und nicht allein sein muß diesen Morgen, nicht so wie sie, Lisa. Sie versucht in einer letzten Anstrengung, die Tränen zu unterdrücken, aber es gelingt ihr nicht mehr, die Welt beginnt, himmelblau und sonnengelb in ihren Augen zu verschwimmen, sich in farbige, wirbelnde Pünktchen aufzulösen. Sie biegt rasch um die Ecke und knallt förmlich gegen den jungen Mann in der zerrissenen Jeansjacke, er hat die Arme wieder oder immer noch durchgestreckt. Nur das mit dem Abheben, denkt Lisa, wird wohl trotz aller Drogen nicht klappen. Wie hat sie diesen ausgemergelten Kerl nur für ein Hoffnungszeichen halten können? Plötzlich meint sie, hier, auf der morgendlichen Straße des Bahnhofsviertels, einen Befehl zu hören, vom selben Gott, der andere zum Tanzen zwingt, sagt, räch dich an ihm, es ist doch so leicht, die Pistole herauszunehmen und zu schießen... der junge Mann, der fast noch ein Kind ist, sieht sie gar nicht an, sondern starrt immer noch mit offenen Augen in den dunklen Himmel, immer noch so, als gleite sein Blick die geheimen Wände eines inneren Museums herunter, so daß—ja—, so daß Lisa eigentlich nichts weiter täte, als ihm die Tür zu verschließen, damit er für immer dort bleiben kann.

Sie sieht ihn höhnisch an, ja, diese Nacht der Begegnung mit dem unbekannten Sören ist tatsächlich eine besondere, nämlich diejenige, nach der sie alle Hoffnung endgültig und für immer aufgibt. Nie wird sie, mit diesem spargeligen Körper, von jemandem geliebt werden, nie wird ­jemand viel Zeit mit ihr verbringen wollen, aus ihrem neuen Porzellangeschirr mit dem blauen Rand essen, immer werden Mädchen wie der blonde Schlangenlederhintern ihr vorgezogen, auch wenn sie überhaupt nicht kochen können. Diese Nacht hat ihr endgültig den Beweis geliefert, daß sie nie eine normale Liebe erleben wird, daß sie sich etwas überlegen muß, vielleicht Leute zu zwingen, sie zu berühren, mit ihrer Pistole, und sie sieht in der unheimlichen Stille, die sich auf der Straße breitgemacht hat, auf die Christusfigur vor ihr herunter, auf den dünnen, sehr jungen Mann, dessen erfreuter Ausdruck auf dem Gesicht, wie sie verblüfft feststellt, im Tod noch gewachsen ist, als habe sie ihm zu guter Letzt einen Gefallen getan.


"Lisa und der himmlischen Körper", in: Silke Scheuermann, REICHE MÄDCHEN (c) Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH, Frankfurt am Main 2005