Für Liebende riecht Stroh anders als für Pferde

Philipp Schönthaler

Illustration by Leif Engström

Nicolas Kiefer greift ein neues Polohemd aus dem eingeschweißten hemdenstapel. Der tennisstar löst das weiße Shirt vorsichtig aus der transparenten hülle. Der Plastikeinband knistert in seiner hand. Er glättet den Kragen, streift es über den gestrafften oberkörper. Kiefer fühlt sich gut, den Körper im Profil wirft er einen blick in den Spiegel—das Spiel kann beginnen:

Der tennisspieler John McEnroe betritt von applaus begleitet das Spielfeld. Er blickt in das Rund der arena. die Reihen sind nahezu bis auf den letzten Platz gefüllt. McEnroe hebt eine hand zum Gruß, winkt, überspielt gekonnt die aufsteigende Nervosität. Vom Profil seiner Schuhe sprüht feiner, roter Sand. McEnroe achtet darauf, dass die Sohlen seiner weißen Sportschuhe die weißen, in den Sand gezogenen Linien, nicht berühren. Er spürt die augen, die auf ihm ruhen. Zu hause sitzen die Zuschauer vor den bildschirmen. Die Zeichen stehen gut. Am himmel ziehen nur wenige luftige Wolken vorbei, erklärt der Sprecher, als Patrick helmes, der Ribéry des Rheinlands, mit dem nackten fuß in die rechte Sportsocke steigt, den Sitz der Socke prüft, dann in die linke schlüpft. Er atmet tief durch. Von draußen dringt der Stadionlärm jetzt in schweren Schüben in die unterirdische Kabine. Der Lärm drückt auf die ohrmuscheln. Helmes schluckt, spürt ein reges Kribbeln in der Magengegend. Er blickt auf, an die abgesetzte aluminiumdecke, es muss jetzt alles stimmen, denkt der Profifußballer. Er streift mit seinen handballen über das geschmeidige Schweinsleder des Schuhs, die augen geschlossen, drückt seine Lippen auf die rechte Schuhspitze, bevor er den Sportschuh anzieht. Anschließend küsst er den linken Schuh, bevor er auch diesen über die ferse streift. Draußen werden die Spieler jetzt gemäß ihren Positionen ausgerufen, die Namen von Jubel begleitet. adrian Mutu nimmt seine bereits im letzten, erfolgreichen Spiel getragene Unterhose aus einer kleinen, königsblauen Plastiktüte, wendet sie auf links, kleidet sich an. Als die Spieler die Kabine verlassen, krallen sich die Stollen der fußballschuhe in die Steinfliesen der Katakombe.

Abseits, neben dem Rasen, steht unterdessen der Moderator. Natürlich ist es schwer sowohl retrospektiv den gelungenen Spielverlauf zu erklären als auch prospektiv eine verlässliche Vorhersage über die Ereignisse zu treffen, erklärt er, den blick in die Kamera—vergessen wir nicht, selbst die Spieltheorie muss von rationalen intentionen und Strategien der einzelnen akteure ausgehen. Der trainer, felix Magath, will sich so kurz vor dem Spiel jedoch nicht weiter äußern. Seit der trainer des VfL Wolfsburg seine grüne Krawatte nicht mehr gewechselt hat, dominiert der Verein die Bundesliga. Fassungslos musste zuletzt der 1. FC Bayern München mit einer 1 zu 5 Niederlage das feld gegen Wolfsburg räumen.

Draußen auf dem Spielfeld hat sich inzwischen ein leichter Wind erhoben, die Stimmung heizt sich auf, erste buhRufe. Die fußballer haben tags zuvor kleine amulette in der Nähe des Strafraums vergraben. Dlamini und Salelwako sind guter hoffnung; beim betreten des felds berühren die fußballer aus Swasiland den Rasen mit der rechten hand, führen sie dann zur brust und zu den Lippen, springen drei Mal auf dem rechten bein, schauen erwartungsvoll auf. Giovanni trapattoni ist jetzt in unmittelbarer Nähe der Mittellinie auf das Spielfeld getreten, verspritzt im letzten WM-Gruppenspiel seiner Mannschaft mit hastigen Gesten heiliges Wasser aus einem fläschchen. Das Weihwasser hat der coach der italienischen Nationalmannschaft zuvor von seiner Schwester erhalten; sie ist Nonne. Erste Zeichen von Unruhe machen sich breit. Die Zuschauer warten auf den anpfiff, stimmen Gesangschöre an, rufen den Spielbeginn herbei.

Währenddessen verkauft draußen in den engen Gassen Neapels, in der Spaccanapoli, Gennaro esposito, 65 Jahre alt, Glückshändler in der dritten Generation, noch immer seine Ware. Die Hitze in den Gassen ist um diese tageszeit drückend. Kleine talismane sind vom Wühltisch ab 50 cent zu haben. Mit einem silbernen halskettchen kosten die talismane 1 Euro. Als der Neapolitaner von dem fremden angesprochen wird, schlägt er die hände über dem Kopf zusammen: Ma che ciuciuette che ssi. Schweig lieber, oder willst du etwa das Unglück heraufbeschwören? Ein unbekannter spanischer hexenmeister hat den portugiesischen fußballstar cristiano Ronaldo vor dem Match von Real Madrid gegen olympique Marseille im September 2009 bedroht. Man sagt, der hexer gehört den Super dragöes an. Die Superdrachen waren bereits 2006 aufgefallen, als der brasilianer adriano vor einem Spiel bedroht wird. Kurze Zeit später wird der fußballer nachts auf dem Weg von der disko nach hause in einer dunklen Seitengasse attackiert. Real Madrids Präsident, florentino Pérez, schüttelt den Kopf, wischt sich einen dünnen Schweißfilm von der Stirn, es ist heiß in dem überfüllten Presseraum. Wir messen solchen Affronts keine Bedeutung bei. Seine Stimme duldet keinen Widerspruch. Er erhebt sich, verschwindet mit einer nachlässigen Geste durch eine Seitentür, die der allgemeinen aufmerksamkeit bisher entgangen war.

Im Stadion ist die Ungeduld inzwischen mit händen zu greifen. Der Mann an der Kasse fragt, ob die zweite halbzeit schon angepfiffen wurde. Aber seine Worte ersticken im Polyester des gestreiften fanschals, den er um Kinn und Mund geschlungen hat. Auf seiner Stirn zittern glasige Schweißperlen. Die Kassiererin ignoriert die frage, sie lässt die verbotene Zigarette, die soeben noch zwischen ihren fingern glomm, rasch verschwinden; ihr absatz zertritt die Glut wie ein schutzloses insekt auf dem nackten boden. Aus der Südkurve sind die Rufe inzwischen auch hier draußen deutlich zu hören. Nach der bekanntgabe des Vereinswechsels im zweistelligen Millinenbereich brüllen die fans den bisherigen favoriten und Liebling, den Stürmer mit der Nummer 10, im heimstadion nieder. Das Wachpersonal ist alarmiert. Die amerikanische Schauspielerin cameron diaz ist verschwunden. Nicht nur eingeweihte wissen, dass diaz an Zwangsstörungen leidet. Nachdem sie ihre blase entleert hat, öffnet diaz die türklinke der toilette mit dem angewinkelten Knie. Sie trägt enge Le-vis-Jeans, die sich straff um ihre langen, trainierten beine und das Gesäß spannen, als sie sich auf den Zehenspitzen aufrichtet, das rechte bein emporhebt und die türklinke mit der Kante ihres seitwärts gedrehten Knies hinunterdrückt. Die tür öffnet sich. Im fünften Stock des atominstituts der technischen Universität Wien tagt die Gesellschaft für kritisches denken. Die Sitzungen sind öffentlich. Βei sauber durchgeführten Untersuchungen stellte sich jedes Mal wieder heraus, dass die angeblichen, übernatürlichen Phänomene Einbildung und Selbsttäuschung waren, sagt Prof. dr. phil. oberhummel, lässt seine Worte wirken. Noch immer bildet die päpstliche Universität zu Rom jährlich 120 Studenten zu exorzisten aus. Der Dachverband Geistiges heilen zählt derzeit 3800 Mitglieder auf seiner homepage, berichten die Medien. Ströbel ist von ihren Recherchearbeiten im Kreis hannover jedoch nachhaltig verunsichert. Nach ihrem letzten interview eilt die Journalistin nach hause, pflanzt einen Salbei in ihrem Garten an. Erst die feuchte erde unter ihren fingernägeln beruhigt sie ein wenig. Sie setzt sich an ihren arbeitstisch, fertigt einige Notizen an:

Das Befremdliche an diesem Denken des Seins ist das Einfache. Der Meßkirchner Philosoph Martin heidegger sitzt in seiner Schwarzwälder arbeitshütte, schreibt mit dem füllfederhalter, hält nur hin und wieder inne, schaut auf, der blick vom Schreibtisch geht durch zwei dicht nebeneinander liegende fenster. Gerade dieses Einfache hält uns vom Befremdlichen ab.—Aber liegt das Phantastische nicht gerade im Einfachen?, überlegt der tiefenpsychologe c. G. Jung. Er ist aufgeschreckt. An der fensterscheibe ist ein leises Pochen zu hören. Jung wendet sich um, öffnet den fensterflügel. Auf der Scheibe kauert ein kleines insekt. Mit einem raschen handgriff greift Jung das tier auf seinem flug ins Zimmer. Vorsichtig öffnet er die geschlossene hand. Es ist ein Rosenkäfer, scarabäusartig. Jung seufzt, lässt sich zurück in seinen Ledersessel sinken. Sind die Götter nicht auch hier, im Wasserkraftwerk am Ufer des Rheins, in den subatomaren Partikeln, in den Adidas-Schuhen genau wie in den alten handgeschnitzten Holzschuhen? Der französische Wissenschaftsund techniksoziologe greift das eckige Gestell seiner brille, nimmt sie vom Gesicht. Es geht nicht um die erkenntnis von dingen an sich, sondern wie diese mit unseren Kollektiven und den

Subjekten verwoben sind. Mit den Kuppen von daumen und Zeigefinger seiner linken hand greift bruno Latour in seine geschlossenen augäpfel, drückt die augenbälle sanft in die augenhöhlen zurück, reibt sich die Lider, überlegt—stellt man einen Blumenstrauß vor einen jungen Pyknoleptiker und fordert ihn auf, diesen zu zeichnen, dann zeichnet er nicht nur den Strauß, sondern auch die Person, die ihn vermutlich in die Vase gestellt hat und selbst die Wiese, auf der die Blume vielleicht gepflückt worden ist. Latour lässt den bürostuhl zur Seite schwingen, schaltet das Radio an, dreht an dem Sender, bis im Rauschen plötzlich Stimmen vernehmbar werden—

Ein Pfiff.—Eckstoß, verkündet der Reporter. Der Ball fliegt jetzt in den Strafraum, wird abgewehrt, gerät wieder unter die Kontrolle der angreifenden Mannschaft. Die Zuschauer springen auf, die hände erhoben, ein erregtes Raunen geht durch die Reihen. Nach seinem phänomenalen Spiel und drei atemberaubenden Paraden, ohne die der Gegner offenbach 3:0 gewonnen hätte, verschweigt der Schalke torhüter Norbert Nigbur nach seiner überragenden Leistung befragt geflissentlich, dass er während des gesamten Spiels ein kleines eingeschweißtes bild von Papst Paul Vi. In der hosentasche seines trikots getragen hatte. In der Kathedrale hebt unterdessen Pfarrhelfer Stöcklin die hände zum Segen: Ite missa est. Deo gratias. Kurzzeitig ist das mächtige Kirchenschiff von dem Knarren der holzbänke erfüllt, als sich die braut christi erhebt—dem kleinen Sanqula wuchs der erste Zahn aus dem oberkiefer. Nun verheiraten die Ältesten von orissa den Jungen mit einer hündin aus dem dorf, um das drohende Unheil abzuwenden. Die vierbeinige Braut trägt bei der hochzeitsfeier im tempel zwei Silberringe sowie eine dünne, silberne Kette um den hals. Es herrscht eine tiefe Harmonie des Ganzen, bestätigt Rudolf Steiner, aber es bedarf eines geistigen ohrs, um das abbild der Realität nicht mit der Realität selbst zu verwechseln. Nach wie vor mangelt es den Menschen an einem geschärften Realitätssinn. Die Voraussetzungen für einen bewusstseinswandel sind jedoch geschaffen, seit der engel Kyron das Magnetfeld der erde im Jahr 1989 zu verschieben begann, berichten zuverlässige Quellen. Lichtnahrungsessenzen sind über das internet für je 30 euro zu beziehen. Aurasprays ab 25 euro. Verjüngungscremes für 99 euro. Überregionale Schlagzeilen macht allerdings nur der fund der Vampirfrau: der jungen frau wurde in einem Lazarett in der bucht von Venedig ein spitzer holzpfahl durch den aufgespreizten Mund gestoßen.

Der Schriftsteller setzt sich auf den balkon. Von der Straße dämmert das organgefarbene Licht der Straßenlaternen, der dunkle himmel ist bedeckt. Im Haus ist es ruhig. Im Zimmer stehen nur wenige Regale, der Schreibtisch. Der Lack der Schreibtischplatte reflektiert den kegelförmigen Schein des harten Lichts der Schreibtischlampe. Der Schriftsteller blinzelt, zögert. Das Glas der Sprache muss endlich zerbrochen werden. Als Junge kroch der Schriftsteller unter einem elektrischen Kuhweidezaun hindurch. es war Sommer, ein Zeltlager. Das Gewitter war plötzlich aufgekommen, hatte die Jungs überrascht. Der blitz schlägt neben dem jungen Schriftsteller ein und verkohlt den Jungen, der dicht neben ihm durch das feuchte Gras unter dem Weidezaun hindurchkriechen will. Der Junge bleibt liegen. Der Schriftsteller steht auf. Er geht zurück ins haus, schreibt: Mitternacht. Der Regen peitscht gegen die Scheiben. Es war nicht Mitternacht. Es regnete nicht.

Philipp Schönthaler: "Für Liebende riecht Stroh anders als für Pferde", from: Nach oben ist das Leben offen (c) MSB Matthes & Seitz Berlin 2012