Die Notbremse

Hermann Burger

Illustration by Naï Zakharia

Ich sitze im Speisewagen an meinem gewohnten Platz. Auf dem Tisch steht ein Täfelchen: Réservé. Ich habe den ganzen Tisch für mich, obwohl der Speisewagen um diese Zeit immer gut besetzt ist. Es steht mir frei, jemanden an meinen Tisch einzuladen, was ich meistens auch tue, um während der langen Reise einen Gesprächspartner zu haben. Pünktlich ist der Schnellzug ausgefahren aus der trübglasigen Bahnhofshalle mit den braunen Perrons, den hastigen Leuten und den Nylonstimmen in den Lautsprechern und rast nun durch Industriequartiere an Autobahnbaustellen, Wohnblöcken, Röhrenlagern und Silos vorbei. Ein sicheres Fahrgefühl wie immer, bequem; sanft der Rhythmus der Schienenstöße. Ein Park mit knallgelben Baumaschinen, die mir jedes Mal wie Riesensaurier einer vergangenen Zeit vorkommen, liegt im grellen Mittagslicht. Löffelbagger, deren Reißzähne in den Himmel ragen, schwere Kipper mit Rippen an den Seitenwänden , Straßenhobel und Raupenkatzen, eine einträchtig versammelte Familie. Ich liebe das Vorüberhuschen der Landschaften im Zug, diesen flüchtigen Genuss eines Bilderbuches. Eine Brücke, ein kurzes Hohlgeräusch—und schon steht der Fluss mit den Pappeln zurück.

Pünktlich wie immer hat der Service begonnen, der Kellner nimmt die restlichen Gedecke von meinem Tisch. «Monsieur?», sagt er, als ich die Speisekarte zuklappe. Ich nicke, da ich mit dem Menü einverstanden bin, und bestelle eine Flasche Dôle dazu. «Monsieur», sagt der Kellner noch einmal, nachdem er mir die Suppe gebracht hat, eine Kraftbrühe mit Weißwein verfeinert, leicht schwappend wegen der Erschütterungen des Wagens. Ich wünsche mir einen guten Appetit, indem ich mich, brotbrechend, seitlich zum Kellner verneige. Er weiß, dass ihm ein gutes Trinkgeld wartet, weshalb er allen Grund hat, aufmerksam zu lächeln. Monsieur, Monsieur, tönt es an den andern Tischen. Es geht vornehm zu. Die Kellner in ihren khakibraunen Kitteln sprechen fließend Französisch und gebrochen Deutsch. Besonders diese Equipe serviert rasch und elegant. Man muss einmal gesehen haben, mit welcher Präzision meine Kellner den Spinat auf den Teller pappen, wie sie, auf einem Bein stehend, in einer Kurve die Fleischplatte mit bedrohlich aufgepeitschter Sauce ausbalancieren oder wie sie den Wein einschenken, ohne einen Tropfen zu verschütten. Das ist Service! Die Gäste, meistens Geschäftsreisende in dunklen Anzü- gen, bemühen sich, die Suppe so lautlos wie möglich zu löffeln. Neu Eintretende empfängt der Chef de service mit der Frage: Zum Essen, pour manger? Wenn sie verneinen, werden sie mit einem Achselzucken abgewiesen. Ich habe Verständnis für diesen Entscheid des Oberkellners. Es gibt immer wieder Reisende, die glauben, man könne mitten im Service einen Pfefferminztee bestellen oder eine Portion Fleischkäse. Wir, die Stammgäste und das Personal, haben wirklich keine Lust, uns das eingespielte Zeremoniell durch einen Fleischkäse verderben zu lassen. Ich sage immer: Der Speisewagen heißt schließ- lich nicht Picknickwagen. An der Art, wie andere Gäste einschenken, sehe ich, ob sie Speisewagenerfahrung haben oder nicht. Die Neulinge lassen das Glas auf dem Tisch stehen, so dass das Getränk natürlich überschwappt und Flecken auf dem blendend weißen Tischtuch hinterlässt. Die Routiniers halten das Glas vor die Mündung der Flasche, ohne aber den Ellbogen aufzustützen. Ich, und ich sage das nicht ohne Stolz, bin ein Routinier.

«Monsieur, noch etwas Suppe?»

«Nein, danke!»

Ich fahre zweimal in der Woche mit diesem Zug, geschäftlich. Ich kenne die Strecke, die Aussicht, die Kellner, ihre Stärken und Schwächen, ich kenne die guten Plätze im Speisewagen und die schlechten, auf denen es zieht, ich kenne die billigen Drucke an den Wänden, die schlechten Hodler-Nachahmungen, ich kenne das hellblaue Geschirr der Speisewagengesellschaft, weiß, im Unterschied zu den Gelegenheitsgästen, wofür die vielen Teller und Unterteller berechnet sind, ich kenne die guten und die schlechten Weine, ich weiß, in welcher Ortschaft normalerweise zum zweiten Mal Gemüse serviert wird, wann die Käseplatte fällig ist. Ich kenne die vier Theorien über das Essen: Das Essen sei gut und teuer, das Essen sei schlecht und teuer, das Essen sei schlecht und billig, das Essen sei gut und billig; ich kenne die Argumente für und gegen jede Theorie und bin in letzter Zeit der Ansicht, das Essen sei schlecht und recht und eigentlich nicht teurer als in einem Restaurant, wo man die vielen Gänge einzeln bezahlen müsste. Ich bin ein gerngesehener Gast, anständig gekleidet, glattrasiert, ein treuer Liebhaber von Dôle. Ich bin einer der vielen Monsieurs der Schweizerischen Speisewagengesellschaft, zufrieden mit der Welt, wenn der Service reibungslos abläuft, und ich spende gern ein zusätzliches Trinkgeld für die Tischreservation.

«Monsieur», flüstert der Kellner. Ich habe ihn gar nicht bemerkt, so leise tritt er auf. Er hält mir die Fleischplatte hin. Ich zeige auf jenes Entrecôte, das noch ein paar blutige Tröpfchen an der Oberfläche hat und den dünnsten Fettstreifen am Rand. Die Bäckerkartoffeln sind knusprig und goldbraun, der Spinat ist weich und läuft doch nicht davon. Bitte, wo gibt es das!

Mein Platz ist vorne. Ich sitze mit dem Rücken gegen das abgetrennte Abteil, in dem sich die Küche befindet und ein Tisch fürs Personal, an dem der Oberkellner die Rechnungen sortiert oder die Menükärtchen druckt. Ich überblicke den ganzen Wagen und amüsiere mich beim Essen über die Gäste, die verdutzt auf die Platten blicken und nicht begreifen, dass hier nicht jeder sein eigenes Kerzenrechaud haben kann. Das fahrende Essen genieße ich fast so sehr wie das Essen im Freien. Es ist eine Lust, das Schnitzel zu zersägen, wenn draußen am Zaun eine Kuh glotzend stehen bleibt, und der Rotwein schmeckt blumiger beim Anblick eines leeren Tennisplatzes. Ich freue mich schon auf den Käse im Areal der Zementfabriken.

Kurz vor der zweiten Portion Spinat und Kartoffeln taucht der Schnellzug in einen Tunnel, der unter dem Schlossberg eines schmucken Städtchens durchführt. Der Tunnel ist nicht sehr lang, und doch so lang, dass man aufhört zu kauen und im Glühbirnenwaggon, der den Felswänden entlangflitzt, sein eigenes Spiegelbild sucht. Da balancieren die Kellner mit ihren Platten, sitzen geisterhaft die Gäste an projizierten Tischen. Wie sie das Weinglas heben, mit ihren Messern kühl-muffige Tunnelluft anschneiden! Wenn man durch den gespiegelten Wagen hindurchblickt, sieht man die Runsen, Scharten und Höcker der Felswände. Der Tunnel würzt den Bissen, den man gerade auf der Gabel hat, mit einem flüchtigen Schauder. Schattenhäutig mein kauendes Gesicht. Die Brille gibt ihm etwas Markantes, trotz den Fettpolstern. Seltsam, dass mir dieser Tunnel nicht gleichgültig ist. Noch jedes Mal habe ich mein Spiegelbild angestarrt, als könnte es mir Auskunft geben über mich, und jedes Mal lockt es mich mit derselben Frage näher an die Scheibe heran: Was würde geschehen, wenn du, mitten im Tunnel, die Notbremse ziehen würdest? Wie ein elektrischer Schlag fährt diese Frage in mein Handgelenk, macht es locker. Es ist der gleiche Reiz wie auf Aussichtstürmen und vor Abgründen: Spring doch! Versuch es einmal! Doch bevor ich auch nur den Vorsatz fassen kann aufzustehen, sind wir schon draußen, blendet mich schon wieder das weiße Tischtuch. Die Frage, die mich im Tunnel drin elektrisieren konnte, wird in der Sicherheit des grellen Mittagslichtes so schemenhaft wie mein verwischtes Spiegelbild. Ich greife zum Wein, während wir an der braungoldenen Kulisse eines mittelalterlichen Städtchens vorbeirasen, an Zinnen, Kupferhelmen, glänzenden Zifferblättern und schattigen Gässchen. Ein Perron bleibt zurück, Leute mit Gesichtern wie Fragezeichen—niemand liebt Züge, die einen stehenlassen—, und auch der grüßende Vorstand gehört zur Spielzeugwelt, die hinter uns abgebaut wird.

«Monsieur, les fromages!»

Der Kellner (oder soll ich ihn Steward nennen?) hat an meinem Tisch gewartet, sehr höflich, sehr aufmerksam, um Monsieur nicht bei seinen Gedankengängen zu stören. Er spießt die gewünschten Käsescheiben auf, empfiehlt Roggenbrot und geizt keineswegs mit Butterröllchen. Ausgezeichnet, dieser Camembert, von einem Schluck Dôle umspült!

Kauend überlege ich hin und her: Weshalb kommst du eigentlich auf den Gedanken, die Notbremse zu ziehen, mitten in diesem harmlosen Tunnel, der keinem Kind mehr Angst macht? Und wie ich das Weinglas absetze, nimmt er lautlos mir gegenüber Platz, der Student mit dem schmalen Glühbirnenkopf, der ich einmal gewesen sein muss, als ich diese Strecke jeden Tag zweimal fuhr, die Bücher auf den Knien, die Hände wie Schutzklappen an den Ohren, um mich im Lärm konzentrieren zu können. Er mustert mich kritisch, schaut verächtlich auf meinen Teller. Ein peinlicher Blick, eine peinliche Begegnung. Vermutlich ahnt er gar nicht, dass er der Gesellschaft, die er um jeden Preis verändern möchte, vorläufig nur als Tourist angehört, solange er auf der Hochschule Urlaub vom Leben nimmt, denke ich. Ich könnte ihm einen Band Marcuse zeigen, den ich in der Mappe habe, er würde die Brauen zumindest kurz erstaunt hochziehen. Oder ein paar Sätze über Vietnam hinstreuen wie Salz auf das blendend weiße Tischtuch, ihn mit ein paar Phrasen aus seinem angelernten soziologischen Kauderwelsch erledigen, ihn fragen, ob er das Praktikum im Demonstrieren schon hinter sich habe. Ich will ihn nicht ärgern. Ich weiß, er lebt von einem Stipendium. Die Stipendien sind bei uns knapp genug, dass einem das Elend der Menschheit ans Herz wachsen kann.

«Gutes Essen macht dick und schläfrig», höre ich ihn nun plötzlich in einem provozierenden Ton sagen, «und dicke Leute werden unbeweglich für Veränderungen. Deine Käseplatte ist dir wichtiger als der Hunger von Millionen.»

Natürlich: Veränderung! Wie oft habe ich dieses Wort schon gehört von solchen, die keinen reservierten Platz im Speisewagen haben. Im Grunde genommen hat er natürlich recht. Dieser Camembert ist mir wichtiger als das Elend der Menschheit, sofern man die beiden Dinge in einem Satz überhaupt nennen darf.

«Höre, junger Mann: Wäre das Elend der Welt geringer, wenn ich auf meinen Camembert verzichten würde?»

«Weil sich alle mit dieser Frage herausreden, statt wirklich zu verzichten, wird das Elend jeden Tag größer.»

Seine Antwort ist scharf und verschlägt mir die Sprache. Ja, damals fand ich noch solche Schlüsse, als sich mein Denken nicht nur auf der Zunge abspielte.

«Übrigens, entschuldige den Ausdruck ‹junger Mann›, er war als Kompliment gemeint.»

«Ich brauche keine Komplimente. Wir brauchen Nahrungsmittel für rund zwei Drittel der Menschheit, die hungern, während du dir im Speisewagen den Magen vollschlägst. Was tust du für diese zwei Drittel?»

Er ist wirklich unbequem. Statt mit Mao, den ich ihm mit drei Sätzen schachmatt gesetzt hätte, kommt er mit der Forderung, bei sich selber anzufangen. Ich verliere langsam den Appetit.

«Eine Zwischenfrage: Gehörst du zu diesen zwei Dritteln? Es ist genügend Käse da.»

Ich spüre, wie die Wut aufkocht in ihm.

«Ich habe genug zu essen, aber ich fresse nicht auch noch für die restlichen zwei Drittel.»

Einen letzten Versuch wagend, erwidere ich: «Du hast vielleicht recht. Doch was nützt es dir, recht zu haben in einer Welt, die das Recht mit den Füßen tritt? Was verändert deine Rechthaberei?»

«Man muss mit kleinen Taten beginnen. Jeder hat über seinem Kopf einen roten Griff. Es braucht bloß den Mut, ihn herunterzureißen. Dann kommt etwas zum Stillstand. Was uns einschläfert, ist der Rhythmus der Schienenstöße, dieses gleichmäßige Tadamm, Tadamm, Tadamm. Wie ein Wiegenlied tönt das, wie ein Wiegenlied. Wir werden sanft eingelullt, damit wir die bittere Tatsache ertragen, dass es sich auf diesem Stern, sofern man nicht zu den Privilegierten gehört, verdammt schlecht leben lässt.»

Er nimmt die Brille ab, reibt sich die Augen. Wie hilflos ich einmal ausgesehen habe! Wie ein Käfer, der auf dem Rücken liegt. Und er tischt mir die Geschichte auf, die ich nicht bestellt habe, die ich längst kenne und doch immer wieder zu verstecken versuche, weil sie meinen Bauch nicht verhindert hat. Weil ich mich schäme.

«Ich saß im Speisewagen», sagt der Student, «und trank mein Bier. Die Leute waren ungeduldig, die Kellner nervös. Mir gegenüber saß ein richtiges Rindvieh von einem Fresssack. Er hatte einen mistfarbenen Schnurrbart und fraß so gierig in sich hinein, dass er schwitzte. Dunkle Flecken zeichneten sich ab unter den Armen. Die fleischigen Ohrläppchen wackelten, die geäderten Backen schwollen auf und ab. Die Lider hatte er gesenkt beim Schmatzen und Kauen. Ab und zu verirrte sich eine Fleischfaser auf meinen Platz. Er machte sich breit mit seinen Ellbogen und brauchte eine ganze Zweierbank für sich. Da betrat ein alter Mann den Speisewagen, der wirklich Hunger hatte. Ich sah es an seinem zitternden, unrasierten Kinn. Er wollte eine Suppe bestellen. Der Kellner zuckte mit den Achseln und erklärte ihm—er war schwerhörig, der ganze Wagen verfolgte die Szene—, dass während der Hauptmahlzeiten keine Suppe abgegeben werden könne. Der alte Mann verstand nicht recht, er war vermutlich noch nie in einem Speisewagen gewesen. Er beharrte auf seiner Bestellung. Als ihn der Kellner unmissverständlich hinauskomplimentierte (er fasste ihn wirklich am Kragen, aber so, dass es nur wenige sehen konnten), sagte der Mann, vielmehr mümmelte er mit dem zahnlosen Mund: ‹Unverschämt, unverschämt, dann gehe ich halt in den nächsten Speisewagen!› Darauf schallendes Gelächter. Und dieses viehische Gelächter der vollen Bäuche, dieses grinsende Unrecht brachte mich dermaßen auf, dass ich die Notbremse ziehen wollte. Der Fresssack mir gegenüber brüllte mit Donnerstimme: ‹Zum Teufel mit diesem armen Schlucker, wo bleibt meine zweite Schweinshaxe!› Der Oberkellner eilte sofort in die Küche, schob den alten Mann beiseite, der kopfschüttelnd zwischen den Tischen hin und her schwankte.»

«Was hofftest du mit der Notbremse zu erreichen?»

«Der Vorfall spielte sich ab, kurz bevor wir in den Schlossbergtunnel eintauchten. Im Tunnel sah ich dann den Wagen verdoppelt, die grinsenden Gesichter wie im Zerrspiegel. Ich wollte sehen, wie ihnen der Bissen aus dem Mund fällt. Das große Entsetzen wollte ich sehen auf ihren kauenden Säuglingsgesichtern. Ich wollte es pfeifen hören, verstehst du? Die Kellner sollten mit den vollen Silberschüsseln über die Tische purzeln und den vergoldeten Weibern mit dem heißen Teewasser die Schenkel verbrühen. Ich stellte mir vor, wie der Mann mit der Schweinshaxe als platt gedrückter Käfer an der Rückwand läge und dem Aufprall entgegenglotzte, Spinatspritzer auf dem Hemd, Erdteile von Schweißflecken unter den Achselhöhlen. Endlich würden sie alle auf die Katastrophe warten, die sie bei der Tischkonversation so leichtfertig im Munde führten und mit Dôle hinunterspülten. Dieser Augenblick war mir eine Geldstrafe wert, wenn sie aus ihrer Fresssicherheit gerissen wurden und plötzlich zu den Pechvögeln zu gehören schienen, die jeweils bei Flugzeugabstürzen und Zugsunglücken ums Leben kommen. Diese hässlichen, runden Zahlen, die man so leicht verdaut. Da würde der reservierte Tisch wertlos, die Kellner hätten keine Zeit mehr, das Trinkgeld einzusammeln. Ich kostete sie aus, diese Sekunden vor dem quietschenden, funkensprühenden Stillstand, und sah, wie sie dann aus ihrem Schreck erwachten, ringsum schwarzen Fels erblickten und ihnen eine Ahnung von der Ewigkeit der Nacht, in der sie steckten, in die Glieder fuhr, diesen geschniegelten Gourmands, denen der Hunger von Millionen nicht einmal den Appetit zur Vorspeise verdarb.»

«Du tatest es natürlich nicht.»

«Ich zog die Notbremse nicht, der Tunnel war zu kurz.»

«Ja, ich sehe dich nun ganz deutlich vor mir, in mir, und ich kann dich in keinem Winkel verstecken, denn das Licht ist zu grell, grelles Mittagslicht nach der Kohlenschwärze des Tunnels, das auf deine Hand fiel, die am roten Griff hing und bereit war zu ziehen, auf die Aborttür aus schmutzigem Leichtmetall, auf die trüb brennende Glühbirne, auf das läppische Verbot in roter Schrift. In diesem Licht kamst du dir plötzlich als kleiner Delinquent vor, als sinnloser Widerstandskämpfer. Du dachtest zu weit voraus: das peinliche Verhör, die Buße, Geld, für das du bitter entbehrte Bücher kaufen konntest. Du warst kein Feigling, du warst bloß zu intelligent, um etwas Dummes im richtigen Augenblick zu tun. Du verdrücktest dich auf die Toilette, schlossest ab und bliebst die ganze Fahrt auf dem Klosett hocken, kalte Zugluft zwischen den Beinen und den Lärm der stotternden Räder in den Ohren. Und da hattest du eine Art Durchfall: Du ließest deinen kämpferischen Mut klatschen auf den sausenden Schotter, deine Hoffnung und deinen Zorn auf die Menschheit, nur weil du zu stolz gewesen warst, am Griff zu ziehen. Dein Idealismus, wie du den Brei aus unverdauten Gefühlen nanntest, fiel durch, klatsch, dein Widerstandsgeist, deine Auflehnung, klatsch, klatsch, dein Gerechtigkeitsfieber. Klein und hässlich wurdest du in der Kabine hinter der gelben Milchglasscheibe, und das Schlimmste war: Du kamst dir furchtbar symbolisch vor und literarisch obendrein. Vermutlich hattest du gerade Dürrenmatt gelesen: Der Tunnel. Weshalb denn sonst hätte es unbedingt in einem Tunnel sein müssen? Das Opfer einer Welt voller Vorschriften: Bitte, nicht hinauslehnen!»

«Monsieur, les fruits!»

Ein Zug schnellt vorüber, lässt die Scheiben erzittern. Ich habe den Studenten verscheucht, mit dem letzten Glas Wein die Toilette hinuntergespült. Die Sonne blendet. Ein weißer Dunst liegt über der Landschaft. Die Dächer der Häuser rings um das Areal der Zementfabriken sind grau gepudert. Die Schlote qualmen. Eine Rangierlokomotive stößt eine Schlange von Silowagen über die Drehscheibe. Giftig gelb steht der Raps hinter den Baracken. Ein Autofriedhof.

«Monsieur, les fruits!»

Ich greife zerstreut in den Korb. Kaffee, ja, und einen doppelten Kirsch. Ich bin nun plötzlich nicht mehr sicher, ob das jüngere Ich die Geschichte dem älteren Ich oder das ältere sie dem jüngeren vorgehalten hat. Sicher ist nur dieses elektrische Zucken in der Hand, jedes Mal wenn wir durch den kleinen Tunnel fahren. Und jedes Mal ist der Tunnel zu kurz, um aufzustehen. Die Finsternis würde nicht einmal bis zur Toilette reichen.

Die Feigen schmecken, besonders beim Anblick eines leeren Pausenplatzes. Ich stecke eine Brasil an, und als der Kellner das Tablett mit dem Kaffee, dem Kirsch und der gefalteten Rechnung bringt, frage ich ihn:

«Herr Ober, können Sie sich vorstellen, dass ich jedes Mal, wenn wir durch den kleinen Tunnel fahren, bei mir denke: Eigentlich müsste man einmal die Notbremse ziehen, einfach so?»

Der Kellner zögert einen Augenblick, ob er es als Witz nehmen solle. Dann findet er, die Rechnung sei hoch genug, und er flüstert mir hinter der vorgehaltenen Hand zu:

«Monsieur, wir stehen jederzeit zu Ihrer Verfügung. Service compris!»



Used by kind permission of Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag.

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