Auszug aus >Dickicht<

Ulrike Almut Sandig

nein. es geht nicht um dich. es geht

um die Möwen im Sommer, die Möwen
im Schwarm, es geht um harmlose
Möwen, um dich geht es nicht. aber
alle Möwen hatten so kleine Gesichter
wie du eines hast. sie flogen quer über
mein Haus in das du nicht wieder
zurück kommst. aber nein, es geht nie

um Möwen! es geht um die Wäsche
im Garten, die hängt in der Sonne
und trocknet viel zu schnell. es geht
um das Wetter, es geht um alle Sachen
die aussprechbar sind, um Sachen
wie Sonne, wie Winter, wie Wind
alle Vögel, und es geht mir auch um
den Hund, den wir hatten, der einmal
im Park, ich glaube, es war ein Park
ohne Meer, der alle Möwen so lang
verbellte, bis quer über den Himmel

kein einziges Tier mehr auffindbar war.





in meinen Augen sitzen die Anderen und sehen sich
alles, was ich sehe, an. ich sehe nur, was ich sehe.

bei Nacht sehe ich den Marder im Flutlicht, im Hof
unterm Blauglockenbaum, seh ihn sich nicht rühren

und unsichtbar werden im ausgehenden Licht. ich
sehe keine Kometen. keine Satelliten. ich sehe nichts

außer dem Stückmond und meinen eigenen Abbild
im Glas. bei Tag sehe ich das rasend verschwommene

Grün im Garten hinter dem Hof, das mechanische
Nicken der Taube auf immer demselben Strauch und

die Flieger drüber im Übersetzungseinsatz seh ich auch.
die Anderen seh ich so wenig wie die Anderen mich.

sie sitzen fest in mir drin. 





hier ist der Durchgang von der Straße zum Winter '38

zurück. der kleine, schlichte Vorhang der Geschichte:
ein kindshohes Gatter im Eisengeländer, sechs Stufen
nach unten zum ausgetrockneten Bachlauf am Zoo.

dort zwei Tage warten, im Stehen mit Sternen, und
Angesehen werden am hellichten Tag. Später endlich
zum Bahnhof und in die Waggons, da fielen die ersten

wie Fliegen, wie Spreu. noch später das Wäldchen aus
Buchen + Buchen + Schnee. dort endet diese Geschichte.
aber hier ist der Durchgang, hier fängt alles neu STOP 





Ulrike Almut Sandig, Dickicht
© Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung, Frankfurt am Main 2011

»wie Sonne, wie Winter, wie Wind« performed by Ulrike Almut Sandig and Marlen Pelny, from the CD Märzwald. Dichtung für die Freunde der Popmusik (c) Schöffling & Co. 2011