Das Leben ein Trauma

Eine Begegnung mit Binjamin Wilkomirski 2008

Noemi Schneider

Illustration by Emma Roulette

„Bitte nicht“, sagt er, als ich das Aufnahmegerät aus der Tasche holen will, „bitte nicht“, und beginnt zu erzählen.

„Sie wissen nichts über mich, sie denken ich bin ein Medien-Ungeheuer!“

Ich sehe ihn aufmerksam an. Unter dem großen Ölbild mit Waldlandschaft auf dem Biedermeier Sofa im Salon eines 300 Jahre alten Schweizer Bauernhauses sitzt Binjamin Wilkomirski, den es eigentlich nicht gibt, nie gegeben hat und nicht geben darf.

„Ich bin Musiker“, fährt er fort, „Klarinettist, ich haben viele Konzerte gegeben und als Musiklehrer an Schweizer Gymnasien und Musikschulen gearbeitet. Lassen Sie mich Ihnen eine Geschichte erzählen. Vor vielen Jahren baten mich drei pensionierte Damen um Klarinettenunterricht, sie waren sehr unsicher, ob es sich in diesem Alter überhaupt noch lohne, mit dem Erlernen eines Musikinstruments zu beginnen. Ich gehöre nicht zu den Musikern, die der Auffassung sind, wenn sie mit fünf Jahren noch kein Instrument begonnen haben zu erlernen, dann können sie es eh vergessen. So habe ich den drei Damen Unterricht gegeben, und nach einem Jahr haben sie zusammen Mozart-Konzerte gespielt. Das war eine große Freude für mich. Das ist dann alles zusammengebrochen, ich wurde frühzeitig aus gesundheitlichen Gründen pensioniert. Ich erzähle Ihnen das, damit sie die folgende Geschichte verstehen.

Vor ein paar Jahren rief mich ein Mann aus Konstanz an und sagte, er habe einen Freund, der in einigen Wochen seinen 40. Geburtstag feiere und dessen größter Wunsch es eigentlich immer gewesen sei, Klarinette spielen zu lernen. Er fragte, ob er am Tage des Geburtstags ganz zufällig bei mir vorbeikommen könnte mit dem Geburtstagkind und dessen Frau und ich ihm seine erste Klarinettenstunde geben könnte. Ja, das können wir machen, hatte ich erfreut zugesagt. Es gingen viele Faxe hin und her. Schließlich kam der Herr, mit dem ich korrespondiert hatte, mit dem Geburtstagskind und dessen Frau. Sie zeigten sich sehr interessiert an der Musik und kamen auch kurz auf mein Buch zu sprechen und sagten etwas in der Art wie: ‚Lassen Sie sich nicht beeindrucken von den Vorwürfen, die gegen sie erhoben werden.’

Das Geburtstagskind zeigte sich hocherfreut und sehr talentiert bei der ersten Klarinettenstunde. Ich glaubte einen neuen Schüler gefunden zu haben.

Am nächsten Tag bekam ich ein Fax, in dem sich der Mann aus Konstanz als Dokumentarfilmer des ZDF zu erkennen gab und mir mitteilte, dass das Geburtstagskind ein Schauspieler aus Zürich gewesen sei, und es ihn lediglich interessiert habe, herauszufinden, ob ich wirklich ein Musiker sei. Seitdem habe ich niemanden mehr hier hineingelassen. Seitdem traue ich Niemandem mehr.“

1995 veröffentlichte Bruno Dössekker unter dem Namen Binjamin Wilkomirski im zur Suhrkamp-Gruppe gehörenden Jüdischen Verlag das Buch „Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948“. Das Buch beschreibt in fragmentarischer Form Erinnerungen aus der Perspektive eines jüdischen Kindes. Der Ich-Erzähler, geboren in Lettland, überlebt während des Nationalsozialismus verschiedene Lager und landet schließlich identitätslos in einem Kinderheim in der Schweiz. Dort erhält er eine Schweizer Identität und wird von einem Ehepaar aus Zürich adoptiert. Das Buch wurde unter anderen mit dem „National Jewish Book Award“ und dem „Prix Mémoire de la Shoa“ ausgezeichnet und in neun Sprachen übersetzt. 1998 erscheint in der Schweizer Wochenzeitung „Weltwoche“ unter dem Titel „Die geliehene Holocaust-Biographie“ ein Artikel des Autors Daniel Ganzfried, selbst Sohn eines Shoa-Überlebenden, in dem dieser, Binjamin Wilkomirski als literarischen Betrüger bezichtigt und behauptet, dass Wilkomirski in Wahrheit Bruno Grosjean heiße und 1941 in Biel als uneheliches Kind einer Yvonne Grosjean geboren wurde. Nach dem Aufenthalt in einem Waisenhaus in Adelboden (Schweiz) wurde er von dem wohlhabenden und kinderlosen Ehepaar Dössekker aus Zürich adoptiert. Wilkomirski kenne Majdanek und Auschwitz nur als Tourist, habe sich eine Holocaust-Biographie erfunden und verhöhne somit die wahren Opfer des Nationalsozialismus.

In seinem Buch „Der Fall Wilkomirski“ (2000) weist der Schweizer Historiker Stefan Mächler nach, dass die angebliche Autobiographie Wilkomirskis in allen wesentlichen Punkten den historischen Fakten widerspricht und legt dar, wie Wilkomirski bzw. Bruno Grosjean seine fiktive Lebensgeschichte über Jahrzehnte allmählich entwickelt hatte. Bruno Dössekker habe eigene Erfahrungen in einem komplexen Prozess der Verschiebung und Umarbeitung in eine Shoah-Kinderbiographie verwandelt. Die „Bruchstücke“ wurden im Oktober 1999 vom Verlag zurückgezogen. Bis dahin wurden laut Angaben der Agentur Liepman knapp 13 000 Exemplare auf Deutsch und fast 33 000 Exemplare auf Englisch verkauft. Eine dreijährige Strafuntersuchung der Zürcher Bezirksanwaltschaft gegen Bruno Dössekker wegen literarischen Betrugs und unlauteren Wettbewerbs wurde eingestellt. Zu den umfangreichen Ermittlungen gehörte auch ein Vaterschaftstest. Der leibliche Vater Bruno Grosjeans wurde in der Zentralschweiz ausfindig gemacht und seine Vaterschaft mit Hilfe einer DNA-Analyse nachgewiesen.

Der Skandal war perfekt. Die hitzigen Debatten um das Buch und seinen Verfasser rückten grundlegenden Fragen an die Literatur und die Geschichte in den Vordergrund. Was darf und kann Literatur, welche Grenzen hat sie, welche Wahrheit ist die wahre und welches Ich das eigene? Welche Freiheit hat die Literatur und welche wird ihr verwehrt und von wem? Welche Geschichte ist die unsrige und wie lernen wir etwas aus ihr? Müssen wir erleben, was wir erzählen, und wie viele Formen des Erlebens gibt es?

Anfang Oktober 2008 schickte ich einen Brief an Bruno Dössekker mit der Bitte um ein Gespräch. Eine Woche später klingelte das Telefon: „Hier ist Wilkomirski, Sie können vorbei kommen!“

Vor seinem Haus steht die einzige Trauerweide des etwa 500 Einwohner zählenden Dorfes in der Deutschschweiz. Am Tor finde ich weder Namen noch Klingel, dafür eine Mesusa in der rechten oberen Ecke. Die Tür ist verschlossen, ich betätige den Eisenklopfer, nach einiger Zeit öffnet sie sich langsam. Ein älterer Herr mit dichten grauen Locken und wachen Augen hinter dicken Brillengläsern steht vor mir, er geht an zwei Stöcken und bedeutet mir mit einer Handbewegung einzutreten. Durch einen gepflasterten Innenhof, vorbei an einem Brunnen und zahllosen Blumenkästen kommen wir in ein altes Fachwerkhaus. Die Decken sind niedrig, durch einen dunklen Flur betreten wir ein längst vergessenes Jahrhundert. In den Wohnräumen stehen Antiquitäten und Biedermeier Mobiliar, Ölbilder und Stiche hängen an der Wand. Siebenarmige Leuchter, Kerzen und Bücher mit dicken Ledereinbänden, Kristallgläser, Karaffen und Blumen. Im Kachelofen knacken die Holzscheite. Die Wanduhr mit den hebräischen Schriftzeichen tickt.

Wir setzen uns an einen kleinen Tisch. Binjamin Wilkomirski steckt sich eine Zigarette an.

Er bewegt sich langsam und vorsichtig, Ich gehe wie auf Glassplittern, sagt er leise. Seit Jahren leidet er unter einer schweren Form der Osteoporose zu der eine Polyneutropathie kam. Sein „Medikamentenwecker“ -ein Handy, liegt immer griffbereit. Alle sechs Stunden muss er Morphium nehmen, damit geht es einigermaßen, ein Restschmerz bleibt. „Manchmal“, sagt er, „klingelt der Wecker und ich bin so damit beschäftigt, die nächsten sechs Stunden Weckzeit einzugeben, dass ich vergesse, das Morphium zu nehmen.“ Jetzt klingelt es, es ist 12.00 Uhr.

„Ich hoffe, Sie haben Hunger“, sagt er und lächelt. „Ich habe etwas vorbereitet, etwas Salziges und etwas Süßes. Ich will keine Umstände machen. Früher hatten wir ein Haus wie ein Bahnhof, ich habe gekocht und gebacken. Jetzt ist alles schwierig. Vor allem der Haushalt“, sagt er. Er hat sich in der Werkstatt verletzt, zwei Sehnen an der linken Hand durchtrennt. Sie heilen langsam wieder zusammen. Vor einem halben Jahr konnte er wieder beginnen, Klarinette zu spielen.

Er hat noch dreieinhalb Freunde, einen Musiker in der Schweiz und einen in Amerika und einen philosophischen Kaminkehrer, der zweimal im Jahr kommt und nach der Arbeit auf einen Kaffee bleibt und davon träumt Klarinette zu lernen.

Das salzige Blätterteiggebäck mit Kräutern aus dem Garten schmeckt ausgezeichnet.

„Eigentlich wollte ich immer Geige spielen, ich will bis heute Geige spielen, aber eine Geige kann man nicht unter der Matratze verstecken“, sagt er. Seinen Adoptiveltern, dem Schweizer Ehepaar Dössekker, schwebte eine medizinische Laufbahn vor. Er entschied sich für die Musik und absolvierte am Konservatorium in Genf ein Klarinettenstudium.

Wir kommen auf das Buch zu sprechen.

„Ich habe die Bruchstücke geschrieben, um eine Ordnung herzustellen, für mich, vielleicht für meine Kinder“, sagt er. Sein ganzes Leben lang hat er seine Identität gesucht und irgendwann glaubte er, sie gefunden zu haben.

Er wechselt abrupt das Thema.

„Machen wir einen Rundgang, dann sehen Sie, dass Schreiben nur etwa 10 % von dem ist, was ich tue.“

Wir gehen, in Zeitlupe, hinüber in die Werkstatt, eine ehemalige Scheune neben dem Wohnhaus. Hier hat er vor 30 Jahren als Autodidakt mit dem Klarinettenbau begonnen. Im unteren Teil befindet sich die Werkstatt, fein säuberlich geordnet stehen hier Werkzeuge, Tinkturen und Harze, Bohrmaschinen, Schleifmaschinen, Gravur-Maschinen, fast fertige Klarinetten -eine Klarinette trägt die Initialen B.W.- Baupläne hängen an der Wand, auf dem Tisch liegt eine Schachtel mit Perlen.

„Was machen Sie mit den Perlen?“, frage ich. Er lächelt und führt mich in den hinteren Teil. Hier liegen unzählige Steine, kleine, mittlere und große. Er sammelt und kauft Steine, er schleift und schneidet sie, poliert, graviert sie und fertigt Schmuckstücke an. Broschen, Ringe, Ketten und Armreife.

Warum er damit angefangen hat?

„Als ich die Musik nicht mehr machen konnte und von den Menschen nichts mehr wissen wollte, und die Menschen nichts mehr von mir wissen wollten, habe ich mich den Steinen zugewandt.“

In der kleinen Küche zeigt er mir eine alte Fotografie seines ehemaligen Physiklehrers aus der Schulzeit. Ein rumänischer Jude, ein Universalgenie im Sinne der Renaissance, der ihn tief beeindruckt hat.

Wir gehen die steile Holztreppe hinauf. Der Raum über der Werkstatt ist groß und hell. Zwei Flügel stehen darin, eine Geige, mehrere Klarinetten. Auf samtbespannten Tischen liegen die von ihm gefertigten Schmuckstücke. Ein Ring hat es mir angetan. „Den könne er mir nicht verkaufen“, sagt er. Das sei nur ein Versuch, nichts fertiges. Er schenkt ihn mir.

Bevor wir hinausgehen, zeigt er mir eines seiner Lieblingsstücke, eine alte Sammelbüchse für die Synagoge von Riga, es sind noch einige Münzen darin.

Wir gehen ins Wohnhaus zurück. Im ersten Stockwerk stehen Tinkturen und Farben. Momentan arbeitet er an einer speziellen Lösung für Vergoldungen. In seinem Arbeitszimmer stapeln sich alte Tonbänder mit Konzertaufnahmen, die er Stück für Stück eindigitalisiert.

In der Küche trinken wir starken Kaffee. Die Espressomaschine aus Siena pfeift vor sich hin. Wir essen selbstgemachten Zwetschgenkuchen. Er raucht viel und wir sprechen über Verwundungen. Er erzählt, wie er 1968 die polnische Geigerin Wilkomirska getroffen hat und zum ersten Mal das Gefühl von Familie hatte, von Preisverleihungen und der Verhaftung, von Freunden und Feinden, von Staatsanwälten und Therapeuten, von Anhörungen und der Hausdurchsuchung, von Medienvertretern und ihren Methoden. Die Wunden sind tief.

Ich sehe auf meine Aufzeichnungen. Die erste Frage lautet: „Wer sind Sie?“ Ich streiche sie durch. Vor dem Fenster streiten sich zwei Meisen um Sonneblumenkerne. „Ich habe einen besonderen Freund,“ sagt er, „mit einer Flügelspannweite von 1,50 Meter. Ein Milan. Er hat sich als Junges den Flügel verletzt. Der benachbarte Bauer hat ihn gefüttert. Seitdem kommt er mich jeden Tag besuchen, manchmal fliegt er mir sogar bis zum Supermarkt nach.“

Wir sehen uns an. „Daraus kann man keinen Zeitungsartikel machen“, sagt er, „das reicht nicht.“

Wir rauchen und trinken noch einen Kaffee, in Zeitlupe. Er begleitet mich zum Tor. Der Nebel hat sich gelichtet. „Sie müssen im Frühling wiederkommen,“ sagt er, „dann ist alles voller Blumen.“

„Dann müssen Sie für mich spielen“, sage ich.

„Da muss ich noch üben,“ er lächelt und geht wie auf Glassplittern langsam ins Haus zurück.

Ich bleibe noch lange vor der Trauerweide stehen und denke nach.

Es gibt kein richtiges Leben im falschen, oder vielleicht doch?