Zwischenstationen

Vladimir Vertlib

Artwork by Hidetoshi Yamada

An jenem Abend stand ich lange auf dem Balkon unseres Zimmers und sah hinunter auf den Hauptplatz von Ostia, der von allen russischen Emigranten schlicht Piazza genannt wurde. In der Mitte befanden sich ein mit Beton eingefaßtes Wasserbecken und ein Springbrunnen, der von einer Grünfläche mit Palmen und Zypressen umgeben war. Jugendliche auf Mopeds und Mofas drehten mit lautem Knattem Runden um den Platz. Man hörte Schreie, Lachen, Pfiffe. Ein lauer Wind wehte den Geruch des Meeres zu mir herüber. Die Atmosphäre erinnerte an Israel, und für einige Augenblicke konnte ich mich der Illusion hingeben, jenes Land, das auch mein eigenes hätte werden können, nie verlassen zu haben. Ich sah mich in ferner Zukunft als Angehöriger einer Einsatztruppe auf ein zu eroberndes Objekt zustürmen, sah die dankbaren Augen von Frauen, deren Retter ich war . . .

Plötzlich hörte ich den Satz: »Argentinien ist vielleicht gar keine so schlechte Idee«, drehte mich um, erblickte Vater, der mit Saizevas Broschüren in Händen den Balkon betreten hatte und mir etwas über Rindfleisch, Pampas und die Juden von Buenos Aires zu erzählen begann. Da erinnerte ich mich wieder daran, daß ich nicht mehr in Israel und somit ein Jored war—ein Abtrünniger, ein verachtenswerter Verräter an der Sache, der seinem Heimatland den Rücken gekehrt hatte.

Ich dachte an den Tag zurück, als mir meine israelische Volksschullehrerin erklärt hatte, was ein Jored ist. Es war vor drei Wochen. »Du wirst zu einem Jored, wenn du das Land verläßt. Warum tun dir deine Eltern so etwas an? Aus dir ware ein guter Israeli geworden. Vielleicht ein wichtiger Mensch für unser Land. Weiß du nicht, daß es schändlich und feige ist zu fluchten, während andere unser jüdisches Vaterland aufbauen und verteidigen? Dein Leben gehört nicht nur dir allein.«

Die Lehrerin war noch jung. Sie sprach mit einer Überzeugung, die jeden Widerspruch von vornherein ausschloß. Ich sah zu Boden und spürte, wie meine Wangen und Ohrenspitzen rot anliefen. Am liebsten hätte ich die Lehrerin in ihre zierliche Hand gebissen, an der ein Silberring glänzte. Doch nachdem ich alle Vor-und Nachteile abgewogen hatte, biß ich nicht zu, sondern wiederholte schnell das, was Vater mir tagtäglich vorredete.

»Deine Eltern glauben offensichtlich, das Schicksal sei ihnen etwas schuldig«, sagte die Lehrerin, nachdem ich meine Erklärungen beendet hatte. »Es ist nicht die Schuld Israels, daß ihr in Rußland unter Antisemitismus und Armut gelitten habt. Andere haben auch gelitten und haben es noch schwerer gehabt. Meine Eltern haben in der Pionierzeit unseres Staates noch in Zelten gelebt und sind trotzdem immer Optimisten geblieben.«

Ich stellte mir das Leben im Zeit recht unangenehm vor, vor allem weil Zelte meist keine Wasserleitungen und Toiletten haben.

*

Mutters Stimme riß mich aus meinen Erinnerungen. »Dein Vater ist ein Idiot«, hörte ich sie sagen. »Und bei dir denke ich manchmal, daß du nicht viel anders bist. Oft, wenn du Unsinn redest und Sachen machst, wie heute im Tolstojfonds, greife ich mir an den Kopf und frage mich, ob du mein Sohn bist oder ob nicht viel eher in der Klinik eine Verwechslung stattgefunden und man mir ein fremdes Baby zugeschoben hat. Doch du kannst nichts dafür und bist außerdem ein Kind. Dein Vater aber ist ein erwachsener Mann, und eine Verwechslung ist leider ausgeschlossen. Jetzt will dieser Mensch nach Argentinien, wo die politische Lage instabil ist, seit einigen Monaten eine Militärjunta an der Macht ist und die Armut grassiert!«

»So arm ist das Land auch wieder nicht«, verteidigte sich Vater, »und eine Rechtsdiktatur ist immer noch harmloser als ein kommunistisches Regime. Juntas kommen und gehen. Die Sowjetunion besteht aber schon seit über einem halben Jahrhundert, und es wird sie sicher noch weitere hundert Jahre geben, während Argentinien in wenigen Jahren sicher wieder eine Demokratie ist.«

»Du weißt ja nicht einmal, ob die Argentinier überhaupt irgendwelche Einwanderer aufnehmen. Ich werde jedenfalls nicht in deren Botschaft gehen. Das kannst du allein tun. Außerdem ist Spanisch eine so häßliche Sprache. Ich habe einmal einen Spanier reden gehört. Hört sich an wie ein Maschinengewehr mit S-Fehler.«

»Es ist die Sprache von Cervantes.«

»Cervantes ist mir egal.«

Ich wollte nicht mehr zuhören, ging wieder ins Zimmer, zog die Balkontür hinter mir zu und öffnete meinen »Bucherkoffer«. Der Koffer, klein, dunkelblau, mit Schutzplättchen aus Eisen an den Ecken, stand neben meinem Bett.

Daß dieser Koffer überhaupt die Reise nach Italien hatte antreten dürfen, grenzte fast an ein Wunder. »Während wir nur das Allernotwendigste mitnehmen«, hatte sich Mutter empört, »kannst du dich nicht von deinen Büchern trennen, die du ohnehin alle schon gelesen hast.« Die Kinderbücher, die mir Grogmutter nach Wien und später nach Israel geschickt hatte, erzählten von der heilen Welt der jungen Pioniere, von Seeabenteuern, Schlittenfahrten durch die Taiga oder den Heldentaten von Revolutionären. Zwar wuße ich damals schon sehr wohl, daß es eine erfundene, ja erlogene Welt war. Doch auf das Vergnügen, sich ihr immer wieder hingeben zu können, wollte ich keinesfalls verzichten. Der Partisanenjunge, der fast im Alleingang eine ganze deutsche Division gefangennahm, war trotz allem mein Vorbild.

»Also gut«, gab sich Mutter schließlich geschlagen, »pack deine wichtigsten Bücher in diesen kleinen Koffer. Bis Rom darfst du sie noch mitnehmen.«

*

[T]agsüber . . . wurde ich der Obhut von Sinajida Borisowna überantwortet, einer gutmütigen, älteren Dame, die aus der westukrainischen Stadt Lwow stammte und sich schon seit mehreren Monaten in Ostia aufhielt. Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, backte sie jeden Abend in der Küche ihrer Vermieterin Piroggen mit Marmelade, die sie für 200 Lire das Stück auf der Piazza verkaufte. Die Polizei drückte bei diesem illegalen Geschäft beide Augen zu. Dafür wurden die Uniformierten jeden Tag kostenlos mit den für sie exotischen russischen Leckereien verköstigt.

In der Früh half ich Sinajida Borisowna, das kleine Tischchen auf Rädern, das ihr als Verkaufsstand diente, aus dem Hof ihres Hauses auf die Grünfläche der Piazza zu schieben. Wir nahmen auf Klappsesseln Platz, die »Signora Piroga« und ihr »bambino«.

»An guten Tagen«, erklärte mir Sinajida Borisowna gleich zu Beginn stolz, »nehme ich bis zu fünzig Miljen ein.«

Da die russischen Emigranten sich mit den vielen Nullen der italienischen Währung schwertaten, wurde für den internen Gebrauch die »Milja« eingeführt, was eine Verballhomung des italienischen »Mille« darstellte und demnach 1000 Lire ausmachte.

Eine italienische Großfamilie umstellte den Verkaufsstand, ein Ehepaar mit fünf Kindern.

»Sette pirogi, per favore«, verlangte der Familienvater, erhielt das Gewünschte und war plötzlich mit einem Preis von »eine Milja, vierzig Kopeken« konfrontiert. Doch der Italiener ließ sich von der sonderbaren Preisangabe nicht irritieren und zahlte die verlangten 1400 Lire. Der Preis der Piroggen war in der ganzen Stadt bekannt.

Manchmal wurde Sinajida Borisowna von ihrem Mann abgelöst, einem schweigsamen, mageren Herrn mit leicht ergrautem Vollbart und Tränensäcken unter den Augen. Mit mir wechselte er kaum je ein Wort. Schweigend rauchte er eine Zigarette nach der anderen.

Sinajida Borisowna hingegen sprach fast ohne Unterbrechung, den Kopf meist hoch erhoben, als würde sie in den Dachwohnungen der umliegenden Häuser ein unsichtbares Auditorium suchen: »Sei froh, mein Kind, daß du deine Eltern hast. Ganz egal, wo du bist, ob am Eingang zur Hölle, am Mond oder auf einer einsamen Insel, bleibt das elterliche Heim für dich ein warmes Nest.«

»Ja, ja«, murmelte ich und begann eine Pirogge zu essen. »Gestem abend haben die Eltern wieder gestritten.«

»Laß sie streiten. Wer streitet, nimmt den anderen wahr. Wer zu streiten aufhört, hat sich aufgegeben, ist schon nicht mehr am Leben. Meine Eltem haben fast immer miteinander gestritten. Am Ende sind sie nur mehr dagesessen, haben kein Wort gesprochen und auf ihren Hungertod gewartet. Das war 1941, im Ghetto.«

Ich zuckte zusammen, legte die Pirogge weg und fragte leise: »Sind sie verhungert?«

»Ja. Zuerst der Vater und drei Tage später die Mutter. Aber vielleicht sollte ich dir solche Sachen nicht erzählen . . . Iß deine Pirogge. Es ist schlecht fürs Geschäft, wenn sowas Angeknabbertes auf dem Tisch liegt.«

»Ich habe keinen Appetit mehr.«

»Dann werde ich sie fertigessen, wenn du erlaubst.«

Sie aß meine Pirogge und wischte sich mit dem Handrücken das Fett von den Lippen: »Meine Tochter ist schon seit zwei Jahren in Amerika, in Philadelphia. Sie schreibt mir regelmäßig Briefe, schickt manchmal Geld. Wenn wir telephonieren, sagt sie immer: ›Mama, laß dich nicht unterkriegen!‹ Sie ist schon ein braves Mädchen, meine Tochter. Auch ihr Ehemann ist ein netter Mensch.«

»Warum dürfen Sie denn nicht nach Amerika einreisen, Sinajida Borisowna?«

»Weil mein Mann und ich Mitglieder der Kommunistischen Partei gewesen sind. Mein Mann war Lehrer, hat sogar eine Zeitlang Marxismus-Leninismus unterrichtet. Kein gutes Eintrittsbillett ins Land der Freiheit. Ein Beamter des US-Konsulats hat uns den Tip gegeben, wir sollten schreiben, man habe uns gezwungen, der Partei beizutreten, uns sonst mit Repressalien gedroht. Was für ein Unsinn! Wir sind ja beide noch als ganz jünge Leute in den dreißiger Jahren Kommunisten geworden. Damals hat Lwow zu Polen gehört, und im Polen der Zwischenkriegszeit war die Kommunistische Partei verboten. Wer hätte uns zwingen können, einer verbotenen Gruppierung beizutreten?«

Sinajida Borisowna bediente einen Kunden, »Grazzje. Arrividäärtschi«, trank einen Schluck aus der Mineralwasserflasche. »Was verstehen die denn schon davon, diese Amerikaner. Die haben ja keine Ahnung, wie es damals in Polen gewesen ist. Furchtbares Elend! Unterdrückung! Da schien der Kommunismus die einzige Alternative. Wir wußten ja nicht, wie in der Sowjetunion unsere Ideale verraten und pervertiert werden. Diese Pharisäer! Das erfuhren wir erst nach 1945.«

»Und warum fahren Sie nicht nach Israel?«

»Was soll ich dort? Unsere Tochter ist in Amerika und hat versprochen, sich bei den Behörden für uns einzusetzen. Außerdem habe ich der Idee des Zionismus nie etwas abgewinnen können. Zu viele Juden auf einem Fleck. Für mich sind die Juden das Salz der Erde. Salz allein ist ungenießbar.«

*

Eines Tages fand ich mich im Hof von Sinajida Borisownas Haus ein und bemerkte sogleich, daß etwas nicht in Ordnung war. Meist begrüßte mich die Frau mit einem fröhlichen »Guten Morgen, junger Mann. Wie hast du geschlafen? Hattest du schöne Träume?« Diesmal jedoch nickte sie mir nur zu, stellte wortlos die Kiste mit den Piroggen auf den Tisch, wischte sich den Schweiß von der Stirn mit einem Taschentuch ab und machte sich auf den Weg. Sie wirkte ungewöhnlich bleich, mußte oftmals stehenbleiben und rasten.

Sie habe sich den Magen verdorben, erklärte sie mir, als wir unseren angestammten Verkaufsplatz erreicht hatten. Die halbe Nacht habe sie auf der Toilette zugebracht, sei müde, schwindlig, spüre, daß sie Fieber habe. »Mein Mann wird mich heute öfter ablösen«, sagte sie.

»Warum verkauft Ihr Mann heute nicht gleich selbst die Piroggen?« fragte ich.

»Weil ihr Männer für praktische Dinge nicht zu gebrauchen seid«, antwortete sie schroff.

Ich beschloß, Sinajida Borisowna in Ruhe zu lassen, schlug ein Buch auf und begann zu lesen.

Bis zum Nachmittag war Sinajida Borisownas Mann etwa fünfmal gekommen. Gegen vier erklärte er, er werde sein tägliches Nachmittagsschläfchen machen und gegen sechs wieder vorbeischauen. Um halb fünf griff sich Sinajida Borisowna an den Bauch, stöhnte laut auf und murmelte: »Ja, zum Teufel, was ist denn das?« Sie musterte mich prüfend. »Glaubst du, daß du mich für eine Viertelstunde ablösen kannst? Du bist ja ein kluger Bub.«

»Selbstverständlich!« sagte ich, erfreut über diese Abwechslung und geehrt durch das mir entgegengebrachte Vertrauen. »Paß nur ja auf!«

»Sie können sich auf mich verlassen. Ich bin ja kein kleines Kind mehr.«

Ein leichtes Lächeln huschte über ihr von Fieber und Müdigkeit gezeichnetes Gesicht. »Na, wenn das so ist, dann bis bald. Sei brav«, sagte sie und steckte mir fünfhundert Lire zu.

Kaum war ich allein, fanden sich gleich mehrere Kunden an »meinem« Verkaufsstand ein. Ein älterer Mann mit weißem Anzug und Strohhut, der einen fuchsroten Boxer an der Leine hielt, eine Frau, zwei Kinder, etwa in meinem Alter, drei junge Männer um die Zwanzig mit schulterlangen Haaren und ein Emigrant aus Buchara, den ich vom Sehen kannte. Ich teilte die Piroggen aus, wickelte sie bald gekonnt in das schöne, braune Packpapier, nahm das Geld entgegen, gab heraus, rechnete, sagte stolz die Betrage auf: quattrocento, duecento, seicento . . . Die italienischen Zahlen hatte ich gelernt, weil meine Eltern die »Milja«-Berechnung immer als ungebildet und vulgär abgetan hatten. Ich nahm eine lässige Körperhaltung ein, saß im Klappsessel, hatte das rechte Bein angezogen, befeuchtete die Finger, wenn ich die Banknoten zahlte, warf die Münzen wie beiläufig in die Holzschatulle, die Sinajida Borisowna als Kassa diente. Die Noten und Metallstücke häuften sich mit fröhlichem Rascheln und Klirren. Ich fühlte mich so, als sei ich ein berühmter Händler. Es war der Beginn einer vielversprechenden Geschäftskarriere, und ich war ein wichtiger Mensch, der alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Der alte Mann bedankte sich höflich, die jungen Männer verspeisten die Piroggen auf einer Bank unweit des Springbrunnens, der Emigrant klopfte mir auf die Schulter und nannte mich seinen Freund. Und ich dachte mir, daß auch Rothschild so begonnen haben dürfte, ganz klein, als Straßenhändler.

Plötzlich waren alle fort. Ich lehnte mich zufrieden zurück, schaute in die Kassa und . . . Ich wollte schreien oder noch lieber sofort sterben. Die Münzen waren noch da, aber alle Banknoten waren verschwunden. Verzweifelt schaute ich mich um, so als suchte ich bei den Passanten Hilfe und Trost. Doch keiner bemerkte mein Zittern und meine aufkommenden Tränen. Niemand blieb stehen, nicht einmal, um schnell eine Pirogge zu kaufen. Ich war allein, verloren, ein armseliger, dummer junge, der sich das Geld stehlen läßt. Ich würde nie Kaufmann werden und als Bettler enden, wenn Sinajida Borisowna mich nicht vorher umbrachte.

Die jungen Männer, denen ich vorhin die Piroggen verkauft hatte, saßen immer noch lachend und plaudernd auf der Bank am Wasserbecken. Manchmal sahen sie zu mir herüber und grinsten unverschämt, so als würden sie mich verhöhnen. Hatten sie das Geld gestohlen? Zweifellos waren sie es gewesen, denn wer sollte es sonst gewesen sein. Der Emigrant? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Ein Russe würde doch nicht einen anderen bestehlen. Der alte Mann mit Hund? Ein so alter und seriös aussehender Herr konnte doch kein Verbrecher sein. Die Frau und die beiden Kinder hatte ich die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. Ich hätte es registriert, wenn jemand von ihnen in die Kassa gegriffen hatte.

Was sollte ich tun? Zu den jungen Leuten hingehen und auf Russisch, Deutsch oder Hebräisch sagen: »Entschuldigung, könnten Sie mir bitte das Geld zurückgeben, das Sie mir gestohlen haben, sonst wird Frau Sinajida Borisowna mit mir schimpfen?«

Plötzlich bekam ich furchtbare Angst. All die fremden Menschen um mich herum, in deren Gesichtern ich erst jetzt bösartige, bedrohliche Fratzen erkannte, würden sich demnächst auf mich stürzen, mir die Uhr vom Handgelenk ziehen, das Kleingeld, die Piroggen, den Tisch und die Stühle entwenden, mich verschleppen oder sofort im Brunnen ertranken. Zitternd ging ich im Kreis um den Tisch herum und wartete sehnsüchtig auf Sinajida Borisowna.

Endlich sah ich sie die Straße überqueren. Sie lächelte mir zu, winkte schon von weitem, ihr Schritt wirkte sicherer und fester. Als sie meine Tranen sah, verfinsterte sich ihr Gesicht sofort. »Was ist passiert?« fragte sie mit scharfer Stimme. Ich wies mit dem Finger Richtung Kassa und stammelte etwas von Dutzenden Italienern, von gefährlich aussehenden Dieben und der Mafia, brachte die Worte kaum heraus.

»Ach, du dummes, unfähiges Kind!« schrie Sinajida Borisowna, holte aus und gab mir eine kräftige Ohrfeige.

»Polizei holen!« sagte ich, während ich mit beiden Händen das Gesicht bedeckte, um mich vor weiteren Schlägen zu schützen,

»Was für Polizei, du Dummkopf?! Mein Piroggengeschäft ist doch illegal. Wir können keine Anzeige erstatten. Stundenlang bin ich krank in der Hitze gestanden, um dieses Geld zu verdienen, und du läßt es dir stehlen. Gib mir die halbe Milja zurück. Sofort!« Ich gab ihr das Geld. Sie legte es in die Kassa und ließ sich in den Stuhl fallen. Ich sah, wie ein leichtes Zittern ihren ganzen Körper erfaßte, wie sie zuerst einen lauten Seufzer von sich gab und dann zu schluchzen begann. »Hitler und Stalin habe ich überlebt«, jammerte sie. »Ständig haben alle auf mir herumgetrampelt. Meine Parteigenossen haben mir ins Gesicht gespuckt, als ich den Ausreiseantrag gestellt habe. Die Amerikaner geben mir kein Visum. Mein Mann ist sowieso zu nichts zu gebrauchen. Und nun wird mir auf meine alten Tage von diesen Spaghettifressern auch noch das letzte Geld gestohlen, weil ein dummer Junge nicht aufpassen konnte. Wer weiß, vielleicht hast du es ja selbst gestohlen? Dir traue ich jetzt alles zu!«

Sofort leerte ich vor Sinajida Borisowna meine Taschen aus, legte drei Murmeln, ein Hundertlirestück und ein Taschentuch auf den Tisch. Die Frau legte die hundert Lire in die Kassa und hörte nicht auf zu weinen. »Ich möchte sterben! Nur sterben, damit alles ein Ende hat. Sterben!«

Ich zog sie am Ärmel, bettelte um Entschuldigung, hätte mich viel wohler gefühlt, wenn sie mich wieder geschlagen oder grob weggestoßen hätte. Aber sie sagte nur: »Geh mir aus den Augen. Ich möchte dich nie mehr wiedersehen!«

Um den Verkaufsstand hatte sich eine Menschentraube gebildet. Ich hörte besorgte und neugierige Stimmen, Russisch und Italienisch. Eine Frau, ebenfalls Emigrantin, nahm mich in Schutz: »Er ist doch höchstens zehn, elf Jahre alt.« Mir wurde alles zuviel. Ich lief davon, irrte lange ziellos durch die Stadt, bevor ich mich nach Hause wagte.

*

»Was fällt dieser dummen Pute überhaupt ein, mein Kind für sich arbeiten zu lassen!« ereiferte sich Vater. »Wenn sie krank ist, soll sie daheim bleiben. Und daß sie ihm eine Ohrfeige gegeben hat, ist überhaupt die allergrößte Frechheit. Mein Kind schlägt niemand außer mir!«

Die Eltern, Signor Coreanu, seine Frau und ich saßen im Wohnzimmer und besprachen mein »Mißgeschick«. Ich versuchte so still wie möglich zu sein und verspeiste langsam ein Stück Kuchen, das mir Carmen gegeben hatte.

»Wieviel hat man ihr überhaupt gestohlen?« fragte Coreanu.

»Weiß ich nicht«, antwortete ich.

Carmen sagte etwas auf Italienisch.

»Meine Frau meint, daß Ostia früher viel sicherer gewesen sei«, übersetzte Coreanu. »Da hätten sich die Leute noch geniert, eine arme Emigrantin oder ein Kind zu bestehlen. Aber heute sei Italien eben nicht mehr das, was es einmal war.«

»Mir wäre so etwas nie passiert«, erklärte Vater nach einer Pause. »Mir ist noch nie etwas gestohlen worden! Aber dieses Kind . . .«

»Lassen Sie ihn doch, er hat heute genug durchgemacht«, unterbrach ihn Coreanu, »Er braucht jetzt einfach Zeit, um wieder zu sich zu kommen.«

Carmen legte mir ein weiteres Stück Kuchen auf den Teller und sagte etwas Freundliches, ein Kosewort vielleicht.

»So kann es nicht mehr weitergehen«, stellte Mutter fest, als wir wieder in unserem Zimmer waren. »Heute ist es nur ein Diebstahl, morgen etwas anderes. Wir sind hier schutzlos, ohne irgendwelche Rechte, praktisch vogelfrei. Das Kind treibt sich auf der Straße herum. Im Herbst muß er wieder zur Schule, und was ist dann?«

»Was schlägst du also vor?« fragte Vater.

»Laß uns nach Israel zurückkehren. Welchen Sinn soll das alles hier noch haben?«

»Was?« schrie Vater. »Nachdem wir alles aufgegeben haben? Nachdem wir den Entschluß gefaßt haben wegzufahren, sollen wir unverrichteter Dinge zurückkehren? Du hast gekündigt. Die Wohnung haben wir auch nicht mehr.«

»Nun«, schlug Mutter. nach einiger Überlegung vor, wir könnten es ja wieder in Österreich versuchen.«

Was sollen wir dort? Ich möchte in einem Land leben, wo mein Sohn kein Fremder ist, wo er eine Zukunft hat. In Österreich bleibt er immer der Jud. Und in Israel muß er den ganzen Saustall, der in diesem Land herrscht, auch noch mit der Waffe in der Hand verteidigen. Nein, du kannst sagen, was du willst, aber ich fahre nicht nach Israel zurück.«

»Immer du, du, du!« schrie Mutter, und ihre Stimme bekam einen hohen, fast hysterischen Unterton. »Wenn es dir wirklich um deinen Sohn geht, dann soll er auch entscheiden.«

Und plötzlich sahen mich beide an, und ich bekam Angst und verstand nicht genau, was man von mir wollte. Vater stand auf und legte mir beide Hände auf die Schultern, schaute mir in die Augen. »Du sollst bestimmen, mein Sohn«, sagte er. »Sollen wir wieder nach Israel zurückkehren oder nach Österreich fahren oder weiter hier ausharren? Was sollen wir tun? Schließlich geht es ja um deine Zukunft.«

Ich suchte den Blick meiner Mutter. Doch ihr Gesicht wirkte ernst und konzentriert.

»Ich weiß es nicht«, murmelte ich. »Ich möchte lieber etwas lesen, und hungrig bin ich auch.«

»Du hast gerade zwei Stuck Kuchen gegessen«, sagte sie streng, »und die Bücher kommen sowieso weg.«

»Wo möchtest du denn in der nächsten Zeit leben?« drängte Vater. »In Israel, in Österreich, hier in Italien, oder sollen wir es doch noch mit Lateinamerika versuchen?«

»Nein, nein!« Ich war selbst überrascht, wie leise und ängstlich meine Stimme klang. »Nicht Lateinamerika!«

»Gut, dann fällt diese Alternative weg. Willst du hier in Italien bleiben?«

Ich dachte an das gestohlene Geld und schüttelte den Kopf. »Also Israel oder Österreich?«

Ich begann zu weinen. Nach Israel wollte ich nicht zurück, und an Österreich hatte ich auch keine guten Erinnerungen, mußte an die trostlosen Wohnungen und die vielen Menschen denken, die mich als »Tschusch« und Ausländerbub beschimpft hatten. Ich schluchzte laut. »Ich will nirgendwo hin«, konnte ich gerade noch herausbringen.

»Demnach möchtest du in Ostia bleiben«, stellte Vater fest. Wieder schüttelte ich den Kopf.

»Das ist nicht logisch«, folgerte Mutter. »Wenn du nirgendwohin möchtest, dann willst du dableiben. Du bist doch schon groß, kannst schon Sinnzusammenhänge erkennen.«

Sinnzusammenhänge konnte ich erkennen, blieb den Eltern aber trotzdem eine Antwort schuldig. Immer noch heulend, begann ich im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Wir sollten ihn in Ruhe lassen«, meinte Mutter.

Mein Blick fiel auf den Koffer, in dem die Bücher lagen. Einem plötzlichen Einfall folgend, ergriff ich den Koffer und lief aus dem Zimmer, vorbei an der verdutzten Carmen, den Blick zu Boden gerichtet.

Ich rannte die Stufen hinunter, überquerte die Piazza. Sinajida Borisownas Piroggenstand war nicht an seinem üblichen Platz. Sie wird sich das Abendgeschäft entgehen lassen, dachte ich, und alles nur wegen mir. Bei diesem Gedanken begann ich wieder zu heulen. Einige Frauen fragten mich etwas auf Italienisch, das ich nicht verstand. Ich lief weiter in Richtung Strand, kam außer Atem, der Arm schmerzte—ich war überzeugt, daß er länger geworden war. Wenn ich den Koffer noch eine Stunde trage, dachte ich, werde ich bald mit den Fingerspitzen die Zehen berühren können.

Ich stieg die Steinstufen von der Straße zum Strand hinunter, zog die Sandalen aus, nahm sie in die linke Hand, während ich mit der rechten den Koffer über den Sand schleifte.

Die Sonne war schon untergegangen. Das Meer wirkte in der Dämmerung fast schwarz. Es war kein Mensch mehr am Strand. Ich krempelte die Hosenbeine hoch, zog die Sandalen aus, hielt den Koffer mit beiden Händen fest und stakste ins Wasser. Zu dieser Stunde, nach einem heißen Sommertag, erschien es mir wärmer als sonst. Mit beiden Armen holte ich aus, machte eine halbe Drehung und warf den Koffer ins Meer. Er platschte, tauchte unter, kam für einen Augenblick wieder an die Oberflache und verschwand endgültig in den sich brechenden, schäumenden Wellen. Und ich hatte das Gefühl, als hatte ich das Teuerste, was ich besitze, verloren. Ich stellte mir vor, wie die Bücher Wasser aufsogen, zu undefinierbaren Klumpen wurden, wie die Buchstaben vom Salz zerfressen wurden, jene Buchstaben, die treue Wegbegleiter meiner Kindheit gewesen waren. Und während ich mir selbst sehr leid tat, wieder weinen mußte und mich an den Strand setzte, dachte ich an Mutters Worte, daß ich ja schon groß sei, und erkannte, daß ich eigentlich nicht groß sein wollte und daß das Leben schön und angenehm sein sollte, wie es nie gewesen war und nie sein würde.


Aus: Vladimir Vertlib: Zwischenstationen.

© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 1999.